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Gedanken im Mai

Positionen

Der Maifeiertag hat ihn erneut ins öffentliche Bewusstsein gebracht – den fairen Lohn. Was aber ist ein fairer Lohn? Bei einem sozial und human vertretbaren Arbeitseinsatz soll er ein auskömmliches Leben ermöglichen. Was aber ist sozial und human vertretbar und was ist auskömmlich? Die etwa 5 Euro, die kaufkraftbereinigt der kenianischen Teepflückerin nach einem 10 Stunden-Tag zuerkannt werden oder die 90 Euro, die eine Erdbeerpflückerin in Deutschland nach acht Stunden Arbeit erhält?

Dann eben Leistung. Wer viel leistet, soll mehr haben als einer, der wenig leistet. Wie aber misst man Leistung? Beim Akkordarbeiter oder bei einfachen Diensten mag dieses Kriterium noch sinnvoll sein. Aber dann? Was hätte der Rat der Stadt Leipzig seinem Thomaskantor Bach zahlen müssen, um seine Leistung fair zu entlohnen? Der Mann war unbezahlbar! Oder wie soll die Leistung eines Unternehmensvorstands gemessen werden, dessen Erfolg oder Misserfolg zu großen Teilen von Umständen abhängt, Leistungsgerechter Lohn - eine Fiktion auf die er nicht den geringsten Einfluss hat? Nein, der faire, weil leistungsgerechte Lohn war schon immer eine Fiktion.

Was aber entscheidet dann über den „fairen Lohn“? Die deutschen Gewerkschaften versuchen gar nicht erst, hierauf eine schlüssige Antwort zu geben. Stattdessen lassen sie ihre Mitglieder mit erfrischender Ehrlichkeit skandieren: Mehr Lohn, weil wir uns das wert sind.

So verstörend dies sein mag: Bei Licht besehen bestimmt weder die Auskömmlichkeit noch die Leistung die Einkommenshöhe, Position bestimmt Einkommenshöhe sondern die bekleidete Position. Es gibt Positionen, da können die Menschen machen was sie wollen, sie kommen nie auf einen grünen Zweig. Und es gibt andere, da sprudeln die Quellen, unabhängig davon, was dort geleistet wird.

Was Wunder, dass individuelles und gesellschaftliches Ringen im Kern vor allem darum geht, sich richtig zu positionieren - die richtige Lohnstufe, die richtige Gehaltsgruppe, die richtige Sprosse auf der Karriereleiter… Das ist für das Wohlergehen des einzelnen ungleich bedeutsamer als die erbrachte Leistung. Diese ist allenfalls Mittel zum Zweck, sich bestmöglich zu platzieren.

Die meisten wissen das, weshalb sie für das Erklimmen einer lukrativen Position oft mehr Energie aufwenden als für die mit ihr einhergehenden Anforderungen. Zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein zählt zumeist mehr als viel zu wissen, zu können und sich selbstlos einzubringen. Und weil das so ist, wird gezogen und geschoben, werden Beziehungen und Netzwerke geknüpft, werden einmal erlangte Privilegien zäh verteidigt und wenn irgend möglich an Kinder und Günstlinge weitergereicht.

So ist der Mensch. Kampf um Positionen behindert gesellschaftliche Erneuerung Aber dem allgemeinen Wohl ist dieses Verhalten höchst abträglich. Denn es behindert die Freisetzung schöpferischer Kräfte und die fortdauernde Erneuerung der Gesellschaft. Eine Kultur, die derartiges Denken und Handeln fördert, schwächt sich. Fördern sollte sie vielmehr die Bereitschaft der Menschen, sich ein wenig von ihren archaischen Neigungen zu lösen und ihre Positionen nicht bis zum Äußersten zu nutzen. Vielleicht ist es ja für alle ein Vorteil, hin und wieder einem weniger Beziehungsreichen aber Fähigeren den Vortritt zu lassen. Die Menschen im alten China sind jedenfalls mit dieser Vorgehensweise jahrhundertelang gut gefahren.