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Von Meinhard Miegel

Kultur ist mehr

Das Thema meiner Ausführungen „Kultur ist mehr“ ist kryptisch. Und wie sollte es anders sein. Denn der Kulturbegriff ist vieldeutig, schillernd, ja beinahe uferlos. Er lässt sich mit vielem verbinden und verschmelzen. Ich will aus einer schier endlosen Liste nur einiges Wenige herausgreifen: Kulturdenkmal, Kulturerbe, Kulturfilm, Kulturgeschichte, Kulturkampf, Kulturkritik, Kulturlandschaft, Kulturpessimismus, Kulturpflanze, Kulturpolitik, Kulturrevolution, Kulturschock, Kulturwissenschaft. Aber es geht auch umgekehrt: Alltagskultur, Esskultur, Hochkultur, Körperkultur, Massenkultur, Sprachkultur, Wirtschaftskultur, Wissenschaftskultur, Volkskultur... Wir ertrinken geradezu in Kultur – zumindest verbal.

Im Laufe der Zeit hat der Kulturbegriff vielfältige Wandlungen und Häutungen durchlaufen Im Laufe der Zeit hat der Kulturbegriff vielfältige Wandlungen und Häutungen durchlaufen. Er stand und steht für praktisches Handeln, rituelle Verehrung, individuelle und gruppenspezifische Bildung, soziale Beziehungen und Formierungen und so weiter und so weiter. Dabei ist dieser Begriff alt und neu zugleich.

Er ist neu, weil er erst im 18. Jahrhundert zum Bestandteil der westeuropäischen Sprachen wird, auch wenn er im Englischen, Französischen, Italienischen oder Deutschen recht unterschiedliche Bedeutungen hat. Doch ist der Begriff auch alt, ist er doch eine Anleihe aus dem Lateinischen. Dort steht er für Der Kulturbegriff ist in der westeuropäischen Sprache neu und alt zugleich „bebauen“, „bewohnen“, „pflegen“, „ehren“. Im Lateinischen ist alles, was nicht „Natur“ ist, also alles, was der Mensch geschaffen hat, „Kultur“. Das gilt sowohl für den praktisch-materiellen wie für den geistig-ideellen Bereich.

Nachdem dieser Begriff Eingang in die Moderne gefunden hatte, wurde er, wie so vieles andere, im Zuge der Ausdifferenzierung in Stücke geschlagen. Von nun an stand und steht er für alles Mögliche, auch für Konträres. Für die einen führte und führt Kultur auf lichte Höhen, für andere in den Abgrund oder zumindest in dessen Nähe.

Zu den ersteren zählt Kant, für den Kultur eine „erzieherische Funktion“ hat. Darüber hinaus dient sie der „Disziplinierung der Sinne und des Willens“. Für Schiller ist Kultur einerseits „freiheitsmehrend“ und zugleich „zügelnd“. Kultur formt und steht so für Schönheit und Ästhetik Kultur formt und steht so für Schönheit und Ästhetik. Kultur ist schön. Auch für Hegel steht das Formende im Vordergrund des Kulturbegriffs. Kultur dient der Beherrschung der äußeren und inneren Natur durch Gestaltung.

„Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn fähig machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will.“

Friedrich von Schiller

Gehlen, um in diesem Zusammenhang auch einen neueren Denker zu Wort kommen zu lassen, betont die Zwiegesichtigkeit der Kultur. Einerseits befreit sie den Menschen aus der unmittelbaren Naturgebundenheit und -abhängigkeit, sie schafft aber auch neue Verbindlichkeiten sozialer, kultureller und institutioneller Art. Ganz anders wird Kultur von Denkern wie Rousseau, Adorno oder Horkheimer gesehen. Von Rousseau haben wir alle noch sein „Retour à la Nature“ im Ohr. Adorno und Horkheimer gingen noch viel weiter. Für sie hatte Kultur etwas durchaus Bedrohliches an sich.

Diese unterschiedlichen Sichtweisen dürften darauf zurückzuführen sein, dass für die einen Form, Maß und Selbstbeschränkung konstitutive Merkmale der Kultur sind, während für die anderen Kultur auch das Exzessive menschlichen Wirkens umfasst. Welche dieser Sichtweisen zutreffend ist, lässt sich nicht entscheiden. Die Geschichte der Menschheit ist nicht zuletzt auch eine Geschichte kultureller EntgleisungenDenn letztlich ist dies eine definitorische Frage. Fest steht allerdings, dass spezifisches menschliches und damit kulturelles Handeln im weitesten Wortsinn Form, Maß und Selbstbeschränkung immer wieder gesprengt hat und dann zur Geißel wurde. Die Geschichte der Menschheit ist nicht zuletzt auch eine Geschichte kultureller Entgleisungen. Menschen neigen zu solchen Entgleisungen. Sie sind fasziniert von Grenzverletzungen und -übertretungen und gleichzeitig fürchten sie sie. Das ist der innerste Kern von Sünde. Ist sie Teil seiner Natur? Gehört sie zur menschlichen Kultur? Ich fürchte beides ist richtig.

Um die gigantische Dimension dieser Problematik zu erfassen, lohnt ein Abstecher in die metaphysischsten Bereiche menschlichen Denkens. In diesem Denken gibt es nur ein Unbegrenztes – in der Zeit: ewig, im Raum: Alles, was außer Gott nach Entgrenzung strebt, ist Inkarnation des Bösen allgegenwärtig, in der Potenz: allmächtig und allwissend – Gott. Diesem Gott wird im Alten Testament Luzifer gegenübergestellt, der von sich sagt, „ich bin wie Gott“, also auch ich bin unbegrenzt. Die Folge dieser Anmaßung ist sein Höllensturz. Soll heißen: Alles, was außer Gott nach Entgrenzung strebt, ist Inkarnation des Bösen.

Kultur bedarf der Begrenzung

Dass auch der Mensch nach Entgrenzung strebt, zeigt seine Geschichte. Die erste große Entgrenzung ist die massive Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen des Menschen zu seinen Gunsten. Das geschieht durch Ackerbau und Viehzucht, Häuser- und Städtebau, Wissenschaft und Technik, Energieerzeugung und industrielle Produktion, Kunst und anderes mehr. In ihrer Gesamtheit bilden die Aktivitäten der Menschen die menschliche Kultur In ihrer Gesamtheit bilden alle derartigen Aktivitäten die menschliche Kultur. Durch sie hebt sich der Mensch von der Natur ab, wobei er dieses Abheben ebenfalls als einen Sturz erfährt – den Sturz aus dem Paradies. Mit ihm verliert er seine „natürliche“ Geborgenheit. Nach und nach wird er zu einem Geschöpf der von ihm selbst geschaffenen Kultur.

Mittlerweile ist Kultur nicht mehr nur ein Spezifikum menschlicher Existenz, sondern auch deren Voraussetzung. Denn ohne Kultur, also unter natürlichen Lebensbedingungen, könnte die Erde allenfalls einige Hundertmillionen Menschen tragen. So aber trägt sie heute annähernd sieben und in wenigen Jahrzehnten voraussichtlich mehr als neun Milliarden.

Der Mensch verdankt die elementarsten Grundlagen seiner Existenz der Kultur Bereits die elementarsten Grundlagen seiner Existenz: Nahrung, Bekleidung oder Behausung verdankt der Mensch seit langem weniger der Natur als vielmehr seiner Kultur. Das gilt in noch ungleich höherem Maße für gesellschaftliche, staatliche, rechtliche oder wirtschaftliche Ordnungen, für wirtschaftliches Handeln, Religion, Philosophie und Politik, für Wissenschaft, Kunst und Sport und anderes mehr. Sie alle sind Erscheinungsformen menschlicher Kultur.

Diese unterschiedlichen Erscheinungsformen bedingen sich wechselseitig und bilden ein dichtes Beziehungsgeflecht. Zugleich stehen sie in einem Spannungsverhältnis zu den natürlichen Lebensbedingungen des Menschen. Seit dieser mittels Kultur seine nAufgrund ihrer Expansivität kann Kultur zerstörerisch wirken atürlichen Begrenzungen zu sprengen sucht, ist Kultur ihrem Wesen nach expansiv. Damit komme ich zurück auf eben Gesagtes. Aufgrund ihrer Expansivität kann nämlich Kultur durchaus zerstörerisch wirken. Und um das zu verhindern, bedarf sie der Begrenzung.

Dabei kann sich der Mensch, anders als in der Natur, in der Kultur nur bedingt auf selbsttätige Regelungsmechanismen verlassen. Vielmehr muss er die Grenzen in einem bewussten Akt selbst setzen. Das Setzen solcher Grenzen ist unter anderem Aufgabe von Religion, Philosophie, Rechts- und Kultur bedarf der Begrenzung, beispielsweise durch Religion und Philosophie Wirtschaftsordnungen sowie ethischen und moralischen Normen.

Ohne ein bewusstes Austarieren des Verhältnisses von Natur und Kultur sowie der verschiedenen Erscheinungsformen menschlicher Kultur untereinander können Störungen auftreten, die das Wohlbefinden von Individuen und Gesellschaften empfindlich beeinträchtigen oder sogar deren Existenz gefährden können. Beispiele hierfür sind die Unterordnung kultureller Erscheinungsformen wie der Politik, Kunst oder Wissenschaft unter die Wirtschaft oder die gegenwärtigen schweren Störungen im Verhältnis von Natur und Kultur.

Stärken und Schwächen der Kultur früh industrialisierter Länder

Mit der Unterordnung kultureller Erscheinungsformen wie der Politik, Kunst oder Wissenschaft unter die Wirtschaft ist die Dominanz der Wirtschaft in der Kultur früh industrialisierter Länder angesprochen. In diesen Ländern – ich verstehe hierunter die Länder Westeuropas, Nordamerikas, Japan, Australien und einige weitere – ist die Kultur seit geraumer Zeit In früh industrialisierten Ländern ist die Kultur weitgehend auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern fokussiert weitgehend auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern einschließlich Geld fokussiert. Andere Erscheinungsformen wie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion, Sport und anderes mehr sind demgegenüber nachrangig. Viele Lebensbereiche sind der Rechenhaftigkeit des Ökonomischen unterworfen. Ökonomisches ist weithin der Maßstab für Erfolg oder Misserfolg insgesamt. Nicht nur die Wirtschaft, auch andere Bereiche werden nach ihrem Beitrag zur Mehrung von Wirtschaftsgütern bewertet. Die Mehrung von Wirtschaftsgütern gilt verbreitet als wichtigste Quelle der Sinnstiftung,

Die Stärke dieser Kultur ist eine in der Menschheitsgeschichte einzigartige Mehrung materiellen Wohlstands. Nachdem die Güter- und Dienstemenge pro Kopf der Bevölkerung über lange historische Zeiträume hinweg kaum zugenommen hatte, hat sie sich in den früh industrialisierten Ländern seit Mitte des 20. Jahrhunderts mehr als verfünffacht. Noch nie ging es in diesen Ländern so vielen Menschen materiell so gut wie jetzt. Die Bevölkerungen dieser Länder gehören allesamt einschließlich der wirtschaftlich Schwächsten zum wohlhabendsten Fünftel der Menschheit.

Die Schwäche einer solchen Kultur ist, dass sie früher oder später an Grenzen stößt Die Schwäche dieser Kultur ist, dass sie früher oder später an Grenzen stößt, die entweder überhaupt nicht oder nur unter Bedingungen überwunden werden können, deren Eintritt ungewiss ist. Zu diesen Grenzen gehören die Endlichkeit der physischen Welt, die ein immerwährendes Wirtschaftswachstum schon rein logisch ausschließt. Hinzu kommt der Verbrauch natürlicher Ressourcen. Die vorhandenen Ressourcen, vom Trinkwasser über Nahrungsmittel bis hin zu Bodenschätzen, namentlich Energieträgern, reichen beim derzeitigen Stand von Wissenschaft und Technik nicht aus, um eine wachsende Weltbevölkerung nach den Maßstäben der früh industrialisierten Länder oder überhaupt auskömmlich zu versorgen. Hätte beispielsweise China heute den gleichen Pro-Kopf- Energieverbrauch wie die USA, würde es die gesamte Weltenergieproduktion für sich benötigen. Ähnliches gilt für zahlreiche weitere Ressourcen. Ob diese Knappheiten durch innovative Durchbrüche in überschaubarer Zeit überwunden werden können, ist ungewiss.

Zu nennen ist ferner Die Belastung der Umwelt hat nicht nur regional, sondern auch global kritische Werte erreicht die Belastung der Umwelt. Sie hat nicht nur regional, sondern auch global kritische Werte erreicht. Dabei stehen viele Volkswirtschaften erst am Anfang massiv umweltbelastender Aktivitäten. Würden alle schon heute die Umwelt so belasten wie dies die Bevölkerungen der früh industrialisierten Länder tun – der Globus wäre vermutlich längst kollabiert. Und schließlich die schwindende Motivation. In den früh industrialisierten Ländern hat eine erhebliche Zahl von Individuen und Bevölkerungsgruppen einen materiellen Lebensstandard erreicht, der eine weitere Fokussierung auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern abnehmend einsichtig erscheinen lässt. Dies heißt nicht, dass alle in materiellem Wohlstand schwelgen. Darauf kommt es jedoch auch nicht an. Entscheidend ist, dass diejenigen, die Wachstum schaffen könnten, abnehmend hieran interessiert sind.

Weitere Begrenzungen der wirtschaftsfokussierten Kultur sind die in den früh industrialisierten Ländern weithin zahlenmäßig abnehmenden und stark alternden Bevölkerungen, eine zunehmende gesellschaftliche Heterogenität oder umgekehrt Schwindender gesellschaftlicher Zusammenhalt, Bildungsmängel oder spirituelle Verarmung sind nur einige weitere Begrenzungen der schwindende gesellschaftliche Zusammenhalt, Bildungs- und Qualifikationsmängel, vernachlässigte Kinder, Jugendliche und nicht zuletzt Alte, die Krise der Erwerbsarbeit, hohe öffentliche Schulden, steigende soziale Kosten, spirituelle Verarmung, spezifische Krankheitsbilder namentlich psychische Erkrankungen und anderes. Diese Begrenzungen sind die Kehrseite der Sicht-, Denk- und Verhaltensweisen, denen die früh industrialisierten Länder ihren hohen materiellen Lebensstandard verdanken.

Kultur der früh industrialisierten Länder weder zukunfts- noch verallgemeinerungsfähig

Bei alledem ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Grenzen der Kultur früh industrialisierter Länder umso schneller erreicht werden, als im Zuge der Globalisierung immer mehr Menschen danach streben, den Vorgaben dieser Kultur zu folgen und deren Wertekanon zu verinnerlichen. Deshalb dürfte rascher als sich das viele heute vorstellen offenbar werden,Eine Kultur, die auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern fokussiert ist, ist nicht zukunftsfähig dass eine Kultur, die auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern fokussiert ist, nicht dauerhaft zukunftsfähig und noch nicht einmal vorübergehend verallgemeinerungsfähig ist.

Dies hat weit reichende Konsequenzen. Denn eine Kultur, die weder zukunfts- noch verallgemeinerungsfähig ist, ist denen gegenüber, die den hohen materiellen Lebensstandard der früh industrialisierten Länder nicht haben (können), begründungs- und rechtfertigungspflichtig. Doch dieser Begründungs- und Rechtfertigungspflicht ist in einer transparenten Welt immer schwerer zu genügen.

Damit steht die Kultur der früh industrialisierten Länder von zwei Seiten unter Druck: Sie stößt an objektive Grenzen und zugleich nehmen die Benachteiligten immer heftiger Anstoß an ihr. Das zwingt die Früh industrialisierte Länder müssen ihren Lebensstil globalen Bedingungen anpassen früh industrialisierten Länder zu Verhaltensänderungen. Konkret: Sie müssen ihre Fokussierung auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern aufgeben und ihren Lebensstil globalen Bedingungen anpassen.

Diese Verhaltensänderungen stellen die Bevölkerungen der früh industrialisierten Länder vor erhebliche Herausforderungen. Denn sie sind in historisch einzigartiger Weise geprägt von Erwerbsarbeit, materiellem Wohlstand und Besitzstreben und zugleich haben sie ihr Wohl und Wehe von immerwährendem Eine Verhaltensänderung stellt die Bevölkerung dieser Länder jedoch vor erhebliche Herausforderungen Wirtschaftswachstum abhängig gemacht. Wirtschaftswachstum ist für sie nicht nur Grundlage ihres betont konsumorientierten Lebensstils und der beständigen Mehrung materiellen Wohlstands. Es ist für sie auch Voraussetzung eines hohen Beschäftigtenstandes und leistungsfähiger sozialer Sicherungssysteme. Aus ihrer Sicht beruht selbst die freiheitlich-demokratische Ordnung auf einer florierenden Wirtschaft. Ohne Wirtschaftswachstum – so ihre Überzeugung – keine stabile Demokratie.

Die früh industrialisierten Länder sind abhängig von materiellem Wohlstand und Wirtschaftswachstum Durch ihre Abhängigkeit von materiellem Wohlstand und Wirtschaftswachstum befinden sich die früh industrialisierten Länder und wachsende Teile der Welt in einer äußerst prekären Lage. Denn unabhängig davon, wie wünschens- und erstrebenswert die Mehrung von Wirtschaftsgütern sein mag – weder lässt sie sich nach Belieben steuern noch überhaupt gewährleisten. Vielmehr ist sie von Bedingungen abhängig, die nur zum Teil politischer oder sonstiger Einflussnahme zugänglich sind. Und diese Bedingungen haben sich, wie ich versucht habe darzutun, nachhaltig verschlechtert.

Neugewichtung kultureller Erscheinungsformen

Deshalb haben die Bevölkerungen der früh industrialisierten Länder gar keine andere Wahl als ihre physischen und psychischen Abhängigkeiten von materieller Expansion zu lockern und die derzeitige ökonomische Engführung zu überwinden. Sie müssen erkennen, dass die Wirtschaft und deren Wachstum kein Selbstzweck sind, Eine stagnierende oder auch schrumpfende Wirtschaft braucht kein Unglück zu sein sondern wie alle übrigen Erscheinungsformen menschlicher Kultur dienende Funktion haben. Eine prosperierende Wirtschaft kann ein Glück, eine stagnierende oder auch schrumpfende Wirtschaft braucht jedoch kein Unglück zu sein.

Die notwendigen Verhaltensänderungen werden erleichtert durch eine Neugewichtung materieller und immaterieller Erscheinungsformen menschlicher Kultur. Kommt es im materiellen Bereich zu Einschränkungen, dann muss dies kein Verlust sein, wenn im immateriellen Bereich ein Ausgleich geschaffen worden ist. Materieller und immaterielle Erscheinungsformen menschlicher Kultur bedürfen einer NeugewichtungEin solcher Ausgleich ist umfassende Bildung, größtmögliche Entfaltung von Kreativität auf jedem Niveau, Religion, ein verändertes Naturverständnis, eine umfassende musische Erziehung und Betätigung oder ein vertieftes Verständnis von Kunst.

Ein verlässliches gesellschaftliches Fundament muss alle Erscheinungsformen menschlicher Kultur umfassen. Eine der wichtigsten bleibt zwar die Wirtschaft. Doch dürfen Zustand und Leistung einer Gesellschaft nicht ausschließlich oder auch nur vorrangig nach wirtschaftlichen Maßstäben bemessen werden. Ebenso wichtig wie wirtschaftlicher Erfolg sind gesellschaftliche Befriedung, Gesundheit und Bildung, Wissenschaft, Kunst und Religion Ebenso wichtig wie wirtschaftlicher Erfolg sind gesellschaftliche Befriedung und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gesundheit und Bildung, Wissenschaft und Kunst, Religion, Natur und Umwelt und das subjektive Wohlbefinden der Menschen.

Allerdings sind, wenn die Fokussierung auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern beendet und die früh industrialisierten Länder wieder auf die ganze Breite menschlicher Kultur gegründet werden, zahlreiche Fragen zu beantworten, die von größter Bedeutung für das gesellschaftliche und individuelle Leben sind. Wie beispielsweise soll die Teilhabe an der wirtschaftlichen Wertschöpfung oder die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme in einem veränderten kulturellen Gefüge gewährleistet werden? Solche und ähnliche Fragen sind für das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Wissenschaften und Künste, den Sport und anderes mehr zu beantworten. Dabei sollte der Leitgedanke bei der Suche nach zukunftsweisenden Antworten die Einsicht Albert Einsteins sein:

„Die Probleme, die es in dieser Welt gibt, sind nicht mir der selben Denkweise zu lösen, mit welcher sie erzeugt worden sind.“

Albert Einstein

Deshalb sollte die Botschaft des ersten Weltkulturgipfels des Internationalen Forums für Kultur und Wirtschaft Forum Tiberius sein: Die nachhaltige Erweiterung des kulturellen Spektrums über den Bereich der Wirtschaft hinaus ist nicht nur ein generelles und immer berechtigtes Anliegen, sondern eine Notwendigkeit. Denn die ökonomisch dominierte Kultur der früh industrialisierten Länder hat ihren Zenit überschritten. Sie ist in ihrer derzeitigen Erscheinungsform nicht länger zukunftsfähig.

Kultur ist mehr – als erfolgreiches Wirtschaften.