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Gedanken im September

Marionetten

Nach den Berechnungen des Global Footprint Network übersteigt seit dem 2. August die Nachfrage der Menschen nach natürlichen Ressourcen die Kapazität der Erde, diese Ressourcen ohne Raubbau für den Rest des Jahres bereitzustellen. Dieser Raubbau schlägt sich nieder in einem ständigen globalen Temperaturanstieg, einer zügigen Schrumpfung der Waldflächen, einem dramatischen Rückgang der Artenvielfalt, Überfischung und anderem mehr. Die Erde signalisiert tausendfach: Ich bin erschöpft.

Anfang der 1970er Jahre lag dieser „Welterschöpfungstag“ noch am Jahresende, das heißt, die Erde vermochte die Aktivitäten der Menschen gerade noch zu verkraften. Seitdem rückt das Datum immer weiter nach vorn. "Welterschöpfungstag" immer früher Um 2050 wird die Menschheit dann voraussichtlich das neue Jahr mit einer bereits erschöpften Erde beginnen, soll heißen, was diese zu bieten hat, wurde im vorangegangenen Jahr schon verbraucht. Anders gewendet: Um wie gewohnt zu leben und zu wirtschaften, benötigt die Menschheit dann zwei Erden.

Ganz gleichgültig ist ihr diese Entwicklung offenbar nicht. Immerhin wurde – wie in früheren Jahren – auch diesmal auf den „Welterschöpfungstag“ hingewiesen. Aber wie! In den Hauptfernsehnachrichten hieß es dazu: Ab heute sind die natürlichen Ressourcen für das laufende Jahr erschöpft. Und nun die Lottozahlen. Was zunächst wie eine bitterböse Satire erscheint, entspricht dem Empfinden der überwältigenden Mehrheit und ist gelebte Wirklichkeit, getreu der britischen Maxime: Mag die Welt auch untergehen, wir spielen weiter Cricket.

Das ist wohl auch der Geist, der derzeit fast alle politischen Parteien lenkt und beflügelt. Mehr, mehr, mehr. Mehr, mehr, mehr Mehr Geld für Kitas, Schulen und Universitäten. Mehr gut bezahlte Arbeitsplätze. Mehr Rente. Mehr Mittel für den Eigenheimbau, die Infrastruktur, die Polizei und Bundeswehr. Dass alle diese Projekte schon längst keine nachhaltige Fundierung mehr haben, sondern zunehmend auf Ausbeutung und Raubbau gründen, schert die wenigsten. Sie lassen sich nur allzu bereitwillig einlullen von Versprechen, deren Erfüllung entweder unmöglich ist oder die Existenzgrundlagen von Pflanzen, Tieren und Menschen zerstören.

Doch über dieses Dilemma wird nicht gesprochen. Schon gar nicht in einem Wahlkampf. Hierin besteht parteiübergreifender Konsens. Dass die etablierten Lebensformen fragwürdig oder richtiger: unhaltbar geworden sind, ist das unbedingte Tabu dieser Gesellschaft, an das zu rühren politisch selbstmörderisch sein kann. Folglich beschränken sich alle politischen Kräfte auf Strategien, von denen sie glauben, sie seien „politisch durchsetzbar“. Ob sie mit ihnen Probleme lösen können oder diese nicht sogar noch verschlimmern, wird allenfalls hinter vorgehaltener Hand gefragt.

Würde in diesem Land ehrliche und ernsthafte Politik betrieben, wäre ihre vordringlichste Aufgabenstellung: Wie führen wir unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten in die Grenzen zurück, die uns die Erde bei unserem jeweiligen Wissens- und Könnensstand setzt. Denn dass wir uns seit geraumer Zeit außerhalb dieser Grenzen befinden, ist schlechterdings nicht mehr zu übersehen. Debatte um Rückkehr innerhalb der ökologischen Grenzen ist überlebenswichtig Zwar ist es schwierig, hierüber in dieser Gesellschaft zu debattieren. Aber die Debatte muss kommen. Sie ist buchstäblich überlebenswichtig. Politiker, die sie zu vermeiden suchen, sind bloße Marionetten eines zerstörerischen Zeitgeistes.