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Gedanken im Januar

Veränderte Perspektiven

Jahreswechsel sind gute Anlässe, über die Zukunft nachzudenken. Wo wollen wir hin und was erwartet uns? Zu Fragen wie diesen haben nicht nur professionelle Zukunftsforscher und Politiker sondern auch Verbandsvertreter, Unternehmens- und Finanzberater und nicht zuletzt Heerscharen von Kaffeesatzlesern viel beizutragen. Und niemand soll sagen, sie hielten mit ihren Einsichten hinter den Berg.

Allein, was nützen ihre Mühen? Betrachtet man die Silvesterprognosen der vergangenen Jahre und selbst Jahrzehnte, dann springt ins Auge, dass sie sich nur wenig verändern. Oder genauer: Herausforderungen bleiben dieselben Kaum eine der wieder und wieder identifizierten Herausforderungen wird abgearbeitet. Stattdessen: Wiedervorlage im nächsten Jahr.

Beispiele: die atomare Bedrohung. Seit dem Zweiten Weltkrieg hängt sie als große schwarze Wolke über uns. Zwar hat sie sich verändert, kleiner geworden ist sie nicht. Oder das Waldsterben. Wir sprechen weniger darüber als vor fünfzig Jahren. Aber noch nie war der Zustand der Wälder welt- und europaweit sowie in Deutschland so schlecht wie heute. Oder die demographische Schieflage. Seit rund einem halben Jahrhundert werden beispielsweise hierzulande nur zwei Drittel der Zahl der Kinder geboren, die zur Erhaltung der Bevölkerung erforderlich sind. Zugleich explodieren die Bevölkerungszahlen weltweit. Planvoller, gesteuerter Ausgleich? Fehlanzeige.

Oder die Umwelt. Zwar ist sie mittlerweile in aller Munde, aber wirkliche Verhaltensänderungen sind bislang nicht eingetreten. Atomare Bedrohung, Waldsterben, demographische Schieflage, globale Verteilungsungleichheiten So gab es 2018 in Deutschland mehr Flugpassagiere als jemals zuvor, obwohl das Fliegen zu den schlimmsten legalen Klimakillern gehört. Die Ferne lockt. Oder die globale Verteilung der Güter dieser Erde. Immer mehr ballt sich in den Händen von immer weniger. Dabei sind wenige Lektionen der Geschichte so eindeutig: Derartige Verteilungsungleichheiten haben noch immer Gesellschaften bis zum Kollaps destabilisiert.

Der Gleichmut, mit dem Menschen dies über lange Zeit hinnehmen, ist bemerkenswert. Erstaunlich ist er nicht. Denn vieles spricht dafür, dass die Evolution sie auf Situationen wie diese nicht vorbereitet hat. Die Herausforderungen, die sie historisch betrachtet bis gestern zu meistern hatten, waren über Jahrzehntausende stets überschaubar und handgreiflich. Wie überlebe ich diesen Tag, den kommenden Winter? Die Welt war eng begrenzt. Der nächste breite Fluss, der nächste Höhenzug.

Und heute wird von ihnen erwartet, dass sie atomare Endlagerstätten bereit stellen, die Jahrtausende überdauern, dafür Sorge tragen, dass Quellen, die seit unvordenklicher Zeit sprudeln, immer weiter sprudeln, auch wenn sie ihnen längst das Wasser abgegraben haben, kurz: Wir müssen lernen, vorausschauend, maßvoll und klug zu handeln Es wird von ihnen erwartet, dass sie weit vorausschauend, maßvoll und klug handeln. Wie gesagt: Die Evolution hat sie hierauf nicht vorbereitet. Das alles müssen sie erst noch lernen. Doch sie müssen es lernen, wenn die Berge ungelöster Probleme nicht immer höher und die Zukunftsszenarien immer düsterer werden sollen.