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Gedanken im Dezember

Zeit

Noch nie hatten Menschen – weltweit, namentlich aber in den westlichen Industrieländern – so viel Zeit, Lebenszeit, wie heute. Und wohl noch nie standen sie so unter Zeitdruck wie jetzt. Bereits Kleinkindern werden Stresssymptome attestiert, und Jugendliche leiden unter Burnout. In den Großstädten reiht sich eine psychologische, psychiatrische oder psychotherapeutische Praxis an die andere. Und trotzdem schwillt die Zahl derer, die mit ihrem Alltag oder gar ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen, immer weiter an.

Das alles ist wieder und wieder thematisiert und gründlich erforscht worden. Viele nehmen sich in Beruf und Freizeit, im Freundes- und Bekanntenkreis und selbst in der Partnerschaft zu viel vor Scheitern programmiert und programmieren so ein immer währendes Scheitern. Sie genügen weder sich selbst noch anderen. Das Leben ist für sie zu einer einzigen Teststrecke geworden, bei der sich – beginnend im Kindergarten und der Schule – Prüfung an Prüfung reiht, und es nur allzu oft heißt: nicht bestanden.

Ein gesunder Ehrgeiz und das Streben, dieses oder jenes Ziel zu erreichen, sind das Eine, Lebensentwürfe, deren Verwirklichung beim Arzt oder in der Psychiatrie enden, etwas Anderes. Aber soweit braucht es gar nicht zu kommen. Schon das ewige: „Ich habe keine Zeit“ ist ein ernst zu nehmendes Anzeichen für ein aus den Fugen geratenes Leben. Denn Zeit gibt es immer und nicht selten sogar im Überfluss.

Um das zu erkennen, müssen wir sie jedoch nicht nur fließen lassen, sondern ihr gelegentlich auch Haltepunkte einräumen Haltepunkte einräumen. Menschen früherer Epochen hatten hierfür ein feines Gespür. Die biblische Schöpfungsgeschichte lassen sie in einer großen Pause enden. Selbst für einen Gott sind sechs Tage zielvollen Schaffens genug. Dann nimmt er sich Zeit für Rückschau, Besinnung und Muße. War das, was ich getan habe, gut?

Wie oft blicken wir Heutigen zurück und fragen uns, ob das, was wir getan haben, gut war? Offenbar nicht häufig genug. Sonst gäbe es schwerlich so viele misslungene Tage, Jahre und schlussendlich Leben, die – sofern überhaupt noch möglich – mit großen Mühen und Kosten wieder in einigermaßen lebenswerte Bahnen zurückgeführt werden müssen.

Individuen, Gruppen und Gesellschaften, die die Fähigkeit oder Übung verloren haben, regelmäßig inne zu halten, um den Wert dessen zu prüfen, was sie getan haben, haben auf Dauer ein existenzielles Problem. Vielleicht stehen wir deshalb heute vor so vielen Herausforderungen, Zu wenig Zeit für Reflexion die wir zwar allesamt selbst verursacht haben, von denen wir jedoch nicht wissen, wie wir sie lösen sollen. Stets fehlte die Zeit zu klären, was sich da zusammenbraut.

Doch diese Zeit muss sein – für den einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes. Gäbe sich der Einzelne hin und wieder Rechenschaft darüber, wie und womit er seine Zeit verbringt, würde er wahrscheinlich staunen, wie viel nicht nur überflüssig und sinnlos, sondern für ihn geradezu schädlich ist. Das gilt in noch höherem Maße für die Gesellschaft, die – beispielhaft gesprochen – heute die Flüsse renaturiert, die sie gestern kanalisiert oder Straßen beruhigt, die sie soeben verkehrsgerecht ausgebaut hat.

Was fehlt ist nicht Zeit sondern das Geschick, mit ihr umzugehen. Und dieses Geschick erwirbt nur, wer Pausen, wirkliche Pausen zulässt. Wie viele? Sechs zu eins Vielleicht ist das biblische Maß ja noch immer gültig: sechs Siebentel der Zeit für Schaffen, Streben und Gestalten und ein Siebentel, um zu betrachten, was dadurch entstanden ist. Ein Siebentel – das dürften viele als kleine Ewigkeit empfinden. Das aber könnte das Bewusstsein dafür schärfen, wie viel Zeit wir an sich haben.