Die halbe Wahrheit

Gedanken im März von Meinhard Miegel.

Gedanken im März von Meinhard Miegel.

Wirtschaftlich geht es den meisten alten Menschen heute gut in Deutschland, vielen sogar sehr gut und allen weitaus besser als es jemals einer Altengeneration in diesem Land gegangen ist.

Die gängige Reaktion auf diesen unbestreitbaren Sachverhalt ist: Das haben sich die heute Alten aber auch redlich verdient. Zwar haben sie im historischen Vergleich nicht übermäßig hart aber alles in allem doch fleißig, diszipliniert und nicht zuletzt innovativ gearbeitet. Darüber hinaus waren sie recht haushälterisch. Was sie jetzt in die Scheuer fahren sind die Früchte dieser eindrucksvollen Generationenleistung.

Das alles ist richtig, doch leider nur die halbe Wahrheit. Denn eben diese Generation, die es sich jetzt im Alter wohlgehenAnlass zur Selbstgefälligkeit haben die heute Alten nicht, denn ihr Wohlbefinden wurde teuer erkauft lässt, hat einen Raubbau an Umwelt und Natur betrieben wie keine Generation vor ihr, hat weltweit Heerscharen von Menschen für Hungerlöhne für sich schuften lassen, hat sich durch nicht gehabte Kinder Investitionen in Billionenhöhe erspart und dennoch riesige Berge öffentlicher Schulden aufgehäuft. Anlass zur Selbstgefälligkeit haben die heute Alten nicht. Ihr Wohlbefinden wurde teuer erkauft. Vielleicht zu teuer.

Umso bedenklicher ist, dass sie jetzt als Maßstab dafür dienen, wie ein gelungenes Leben auszusehen hat. Dann heißt es bei den Jüngeren: So gut wie unsere Eltern oder Großeltern werden wir es nicht mehr haben. Der internationale Wettbewerb ist härter geworden, unsere innovativen Vorsprünge schwinden und am Ende droht vielen Altersarmut.

Auch das ist richtig, aber zum Glück wiederum nur die halbe Wahrheit. Die Jüngeren haben die Chance, Lebensformen zu entwickeln, die zukunftsfähig sind  Denn was viele der Jüngeren heute als verdüsterte Zukunft empfinden ist nichts anderes als die Rückkehr zu einer belastbaren Wirklichkeit. Sie haben die Chance, das bisherige Illusionistentheater hinter sich zu lassen und Lebensformen zu entwickeln, die ungleich zukunftsfähiger sind als jene der zurückliegenden Jahrzehnte. Das ist kein billiger Trost, sondern die Hinwendung zu einer neuen Kultur der Substanz und Nachhaltigkeit, zu einer auch politisch neuen Kultur.

Von der Angst der Menschen, materielle Wohlstandseinbußen zu erleiden

Gedanken im Februar von Meinhard Miegel

Gedanken im Februar von Meinhard Miegel

Von den vielen Ängsten, die derzeit die Deutschen wie die Bevölkerungen aller anderen wirtschaftlich entwickelten Länder plagen, sticht eine besonders hervor: die Angst, materielle Wohlstandseinbußen zu erleiden, sei es weil der breite Strom an Gütern und Diensten abschwillt, sei es weil mehr als bislang mit anderen geteilt werden muss. Grundlos ist diese Angst nicht. Denn Die Zeichen einer säkularen Stagnation oder gar Schrumpfung mehren sich die Zeichen einer säkularen Stagnation oder gar Schrumpfung mehren sich und die weniger Glücklichen dieser Erde lassen sich abnehmend mit wohlfeilen Sprüchen abspeisen.

Anlass zu echter Sorge ist dies dennoch nicht. Selbst wenn die heute wohlhabenden Bevölkerungen, unter ihnen die Deutschen, auf ein Viertel oder ein Drittel ihres materiellen Wohlstands verzichten müssten, lebten sie immer noch weitaus opulenter als ihre Eltern oder gar Großeltern, die im historischen Vergleich alles in allem recht auskömmliche Leben führten.

Den Menschen fällt der Verzicht schwer Was also treibt die Menschen um, so dass nicht wenige Heil in haltlosesten Versprechen suchen? Wohl zum einen, weil der Verzicht auf etwas und sei es auch noch so überflüssig, den meisten schwer fällt. Hier hilft nur Gewöhnung. Doch Menschen passen sich veränderten Lebensbedingungen an und zwar viel schneller als sie dies im Vorhinein für möglich halten. Erleichtert wird diese Anpassung, wenn sie nicht allzu abrupt erfolgen muss. Ein allmählicher Abstieg wird zumeist ohne größere Verwerfungen überstanden.

Hinzukommen muss jedoch ein Weiteres. Der Abstieg muss alle betreffen. Und hier nun stellen sich die größten Probleme. Während beachtliche Teile der Bevölkerung schon sEiner Minderheit ist es bisher gelungen, sich Einschränkungen zu entzieheneit langem Einschränkungen hinnehmen müssen, ist es einer Minderheit bisher nicht nur gelungen, sich diesem Trend zu entziehen, sondern sie hat im Gegenteil ihren Vorsprung in mitunter geradezu obszöner Weise ausgebaut. Was von dieser Minderheit an Einkommen und Vermögen zusammen gescharrt wird, geht weit über das hinaus, was in der bekannten Geschichte als sittlich und gemeinschaftsverträglich angesehen worden ist.

Die ökonomische Sinnhaftigkeit dieses Verhaltens mag hier dahingestellt bleiben. Vielleicht kann es als schlicht dumm abgetan werden. Bedeutsamer ist etwas anderes. Ungleichheit erschwert die notwendige Anpassung an veränderte Lebensbedingungen Ein derartiges Verhalten erschwert die notwendige Anpassung an veränderte Lebensbedingungen, weil es unvermeidlich die Frage provoziert: Warum nur wir und nicht auch die? Wenn diese Frage nicht überzeugend beantwortet werden kann, erzeugt sie Spannungen, die zerstörerischen Kräften Auftrieb geben und schlimmstenfalls zu einem blutigen Zusammenbruch der Gesellschaft führen können.

Selbst gigantische Vermögen bieten keinen wirksamen Schutz vor dem Zusammenbruch der Gesellschaft Das sollten all jene bedenken, die sich hinter Vertragsklauseln und Gesetzestexten zu verschanzen suchen, wenn es darum geht, Einkommen, Abfindungen oder Boni legitim erscheinen zu lassen, die durch nichts zu rechtfertigen sind. In einer kollabierenden oder auch nur zerrissenen Gesellschaft bieten selbst gigantische Vermögen und Einkommen in Multimillionenhöhe keinen wirksamen Schutz vor drastischem Niedergang.

Er sagt was er denkt und tut was er sagt

Gedanken im Januar von Meinhard Miegel

Gedanken im Januar von Meinhard Miegel

[caption id="attachment_931" align="alignleft" width="300"] Donald Trump[/caption]

Eines muss man dem neuen amerikanischen Präsidenten lassen. Er sagt was er denkt und tut was er sagt. Das ist unter Politikern nicht gerade häufig. Aber wohl nicht zuletzt deshalb haben ihn 62 Millionen Wählerinnen und Wähler ins Weiße Haus getragen und bewundern ihn viele weitere Millionen in aller Welt.

Was aber denkt dieser Mann? Da er das unverblümt sagt, gibt es nichts zu rätseln: Ich, ich, ich, wobei er sich umstandslos mit der ganzen Nation gleichsetzt. Hieß es bis zu seiner Wahl Trump zuerst, so heißt es seitdem Amerika zuerst und zwar nur Amerika. Amerika soll stark, wohlhabend, stolz und sicher sein – vor allem aber soll es gewinnen Amerika soll stark, wohlhabend, stolz und sicher sein. Vor allem aber soll es gewinnen, gewinnen, gewinnen. Seine Interessen sollen stets vorangestellt werden. Nützt es Amerika dann zum Teufel mit freiem Handel, der Einhegung von Finanzzockern, dem Schutz von Umwelt und Klima und vielem anderen mehr. Dann werden Grenzbefestigungen errichtet und soziale Sicherungssysteme geschleift.

Auch wenn durchaus fraglich ist, ob das alles dem Land tatsächlich nutzt – entscheidend ist etwas anderes. In Amerika wird ohne Scham und Scheu ein Denken zelebriert, das bislang bemäntelt worden ist: krassester Egoismus Hier wird ohne Scham und Scheu ein Denken zelebriert, das bislang – so gut es ging – bemäntelt worden ist. Krassesten Egoismus so plakativ vor sich herzutragen verstieß gegen die gesellschaftliche Konvention, auch wenn dieser seit langem die westliche Kultur – und nicht nur diese – durchdringt und zersetzt. Was mir nützt ist unbesehen gut. Belange anderer zählen nicht. Worum es geht sind profitable Deals. Wer dabei verliert ist selber schuld. In dieser Welt sind Stiftungen für Geisteswissenschaften oder Künste Fremdköffnerper. Also weg damit!

Von schonlichem Umgang, von Achtsamkeit mit Mitmenschen und Natur, Wissenschaft und Künsten oder ethischen und religiöffnesen Normen ist hier weit und breit keine Spur mehr. Vielleicht wird man Donald Trump eines Tages dankbar sein müssen — vielleicht bedarf es dieses Schocks Vielleicht wird man Donald Trump eines Tages dankbar sein müssen, dass er das mit diesem Zynismus und dieser Brutalität jetzt deutlich macht. Vielleicht bedarf es dieses Schocks. Denn die westliche Kultur leidet seit langem unter der Auszehrung ihrer Substanz. Donald Trump hat dies auf beklemmende Weise bewusst gemacht.

Kultur ist mehr

Von Meinhard Miegel

Von Meinhard Miegel

Das Thema meiner Ausführungen „Kultur ist mehr“ ist kryptisch. Und wie sollte es anders sein. Denn der Kulturbegriff ist vieldeutig, schillernd, ja beinahe uferlos. Er lässt sich mit vielem verbinden und verschmelzen. Ich will aus einer schier endlosen Liste nur einiges Wenige herausgreifen: Kulturdenkmal, Kulturerbe, Kulturfilm, Kulturgeschichte, Kulturkampf, Kulturkritik, Kulturlandschaft, Kulturpessimismus, Kulturpflanze, Kulturpolitik, Kulturrevolution, Kulturschock, Kulturwissenschaft. Aber es geht auch umgekehrt: Alltagskultur, Esskultur, Hochkultur, Körperkultur, Massenkultur, Sprachkultur, Wirtschaftskultur, Wissenschaftskultur, Volkskultur... Wir ertrinken geradezu in Kultur – zumindest verbal.

Im Laufe der Zeit hat der Kulturbegriff vielfältige Wandlungen und Häutungen durchlaufen Im Laufe der Zeit hat der Kulturbegriff vielfältige Wandlungen und Häutungen durchlaufen. Er stand und steht für praktisches Handeln, rituelle Verehrung, individuelle und gruppenspezifische Bildung, soziale Beziehungen und Formierungen und so weiter und so weiter. Dabei ist dieser Begriff alt und neu zugleich.

Er ist neu, weil er erst im 18. Jahrhundert zum Bestandteil der westeuropäischen Sprachen wird, auch wenn er im Englischen, Französischen, Italienischen oder Deutschen recht unterschiedliche Bedeutungen hat. Doch ist der Begriff auch alt, ist er doch eine Anleihe aus dem Lateinischen. Dort steht er für Der Kulturbegriff ist in der westeuropäischen Sprache neu und alt zugleich „bebauen“, „bewohnen“, „pflegen“, „ehren“. Im Lateinischen ist alles, was nicht „Natur“ ist, also alles, was der Mensch geschaffen hat, „Kultur“. Das gilt sowohl für den praktisch-materiellen wie für den geistig-ideellen Bereich.

Nachdem dieser Begriff Eingang in die Moderne gefunden hatte, wurde er, wie so vieles andere, im Zuge der Ausdifferenzierung in Stücke geschlagen. Von nun an stand und steht er für alles Mögliche, auch für Konträres. Für die einen führte und führt Kultur auf lichte Höhen, für andere in den Abgrund oder zumindest in dessen Nähe.

Zu den ersteren zählt Kant, für den Kultur eine „erzieherische Funktion“ hat. Darüber hinaus dient sie der „Disziplinierung der Sinne und des Willens“. Für Schiller ist Kultur einerseits „freiheitsmehrend“ und zugleich „zügelnd“. Kultur formt und steht so für Schönheit und Ästhetik Kultur formt und steht so für Schönheit und Ästhetik. Kultur ist schön. Auch für Hegel steht das Formende im Vordergrund des Kulturbegriffs. Kultur dient der Beherrschung der äußeren und inneren Natur durch Gestaltung.

„Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn fähig machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will.“

Friedrich von Schiller

Gehlen, um in diesem Zusammenhang auch einen neueren Denker zu Wort kommen zu lassen, betont die Zwiegesichtigkeit der Kultur. Einerseits befreit sie den Menschen aus der unmittelbaren Naturgebundenheit und -abhängigkeit, sie schafft aber auch neue Verbindlichkeiten sozialer, kultureller und institutioneller Art. Ganz anders wird Kultur von Denkern wie Rousseau, Adorno oder Horkheimer gesehen. Von Rousseau haben wir alle noch sein „Retour à la Nature“ im Ohr. Adorno und Horkheimer gingen noch viel weiter. Für sie hatte Kultur etwas durchaus Bedrohliches an sich.

Diese unterschiedlichen Sichtweisen dürften darauf zurückzuführen sein, dass für die einen Form, Maß und Selbstbeschränkung konstitutive Merkmale der Kultur sind, während für die anderen Kultur auch das Exzessive menschlichen Wirkens umfasst. Welche dieser Sichtweisen zutreffend ist, lässt sich nicht entscheiden. Die Geschichte der Menschheit ist nicht zuletzt auch eine Geschichte kultureller EntgleisungenDenn letztlich ist dies eine definitorische Frage. Fest steht allerdings, dass spezifisches menschliches und damit kulturelles Handeln im weitesten Wortsinn Form, Maß und Selbstbeschränkung immer wieder gesprengt hat und dann zur Geißel wurde. Die Geschichte der Menschheit ist nicht zuletzt auch eine Geschichte kultureller Entgleisungen. Menschen neigen zu solchen Entgleisungen. Sie sind fasziniert von Grenzverletzungen und -übertretungen und gleichzeitig fürchten sie sie. Das ist der innerste Kern von Sünde. Ist sie Teil seiner Natur? Gehört sie zur menschlichen Kultur? Ich fürchte beides ist richtig.

Um die gigantische Dimension dieser Problematik zu erfassen, lohnt ein Abstecher in die metaphysischsten Bereiche menschlichen Denkens. In diesem Denken gibt es nur ein Unbegrenztes – in der Zeit: ewig, im Raum: Alles, was außer Gott nach Entgrenzung strebt, ist Inkarnation des Bösen allgegenwärtig, in der Potenz: allmächtig und allwissend – Gott. Diesem Gott wird im Alten Testament Luzifer gegenübergestellt, der von sich sagt, „ich bin wie Gott“, also auch ich bin unbegrenzt. Die Folge dieser Anmaßung ist sein Höllensturz. Soll heißen: Alles, was außer Gott nach Entgrenzung strebt, ist Inkarnation des Bösen.

Kultur bedarf der Begrenzung

Dass auch der Mensch nach Entgrenzung strebt, zeigt seine Geschichte. Die erste große Entgrenzung ist die massive Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen des Menschen zu seinen Gunsten. Das geschieht durch Ackerbau und Viehzucht, Häuser- und Städtebau, Wissenschaft und Technik, Energieerzeugung und industrielle Produktion, Kunst und anderes mehr. In ihrer Gesamtheit bilden die Aktivitäten der Menschen die menschliche Kultur In ihrer Gesamtheit bilden alle derartigen Aktivitäten die menschliche Kultur. Durch sie hebt sich der Mensch von der Natur ab, wobei er dieses Abheben ebenfalls als einen Sturz erfährt – den Sturz aus dem Paradies. Mit ihm verliert er seine „natürliche“ Geborgenheit. Nach und nach wird er zu einem Geschöpf der von ihm selbst geschaffenen Kultur.

Mittlerweile ist Kultur nicht mehr nur ein Spezifikum menschlicher Existenz, sondern auch deren Voraussetzung. Denn ohne Kultur, also unter natürlichen Lebensbedingungen, könnte die Erde allenfalls einige Hundertmillionen Menschen tragen. So aber trägt sie heute annähernd sieben und in wenigen Jahrzehnten voraussichtlich mehr als neun Milliarden.

Der Mensch verdankt die elementarsten Grundlagen seiner Existenz der Kultur Bereits die elementarsten Grundlagen seiner Existenz: Nahrung, Bekleidung oder Behausung verdankt der Mensch seit langem weniger der Natur als vielmehr seiner Kultur. Das gilt in noch ungleich höherem Maße für gesellschaftliche, staatliche, rechtliche oder wirtschaftliche Ordnungen, für wirtschaftliches Handeln, Religion, Philosophie und Politik, für Wissenschaft, Kunst und Sport und anderes mehr. Sie alle sind Erscheinungsformen menschlicher Kultur.

Diese unterschiedlichen Erscheinungsformen bedingen sich wechselseitig und bilden ein dichtes Beziehungsgeflecht. Zugleich stehen sie in einem Spannungsverhältnis zu den natürlichen Lebensbedingungen des Menschen. Seit dieser mittels Kultur seine nAufgrund ihrer Expansivität kann Kultur zerstörerisch wirken atürlichen Begrenzungen zu sprengen sucht, ist Kultur ihrem Wesen nach expansiv. Damit komme ich zurück auf eben Gesagtes. Aufgrund ihrer Expansivität kann nämlich Kultur durchaus zerstörerisch wirken. Und um das zu verhindern, bedarf sie der Begrenzung.

Dabei kann sich der Mensch, anders als in der Natur, in der Kultur nur bedingt auf selbsttätige Regelungsmechanismen verlassen. Vielmehr muss er die Grenzen in einem bewussten Akt selbst setzen. Das Setzen solcher Grenzen ist unter anderem Aufgabe von Religion, Philosophie, Rechts- und Kultur bedarf der Begrenzung, beispielsweise durch Religion und Philosophie Wirtschaftsordnungen sowie ethischen und moralischen Normen.

Ohne ein bewusstes Austarieren des Verhältnisses von Natur und Kultur sowie der verschiedenen Erscheinungsformen menschlicher Kultur untereinander können Störungen auftreten, die das Wohlbefinden von Individuen und Gesellschaften empfindlich beeinträchtigen oder sogar deren Existenz gefährden können. Beispiele hierfür sind die Unterordnung kultureller Erscheinungsformen wie der Politik, Kunst oder Wissenschaft unter die Wirtschaft oder die gegenwärtigen schweren Störungen im Verhältnis von Natur und Kultur.

Stärken und Schwächen der Kultur früh industrialisierter Länder

Mit der Unterordnung kultureller Erscheinungsformen wie der Politik, Kunst oder Wissenschaft unter die Wirtschaft ist die Dominanz der Wirtschaft in der Kultur früh industrialisierter Länder angesprochen. In diesen Ländern – ich verstehe hierunter die Länder Westeuropas, Nordamerikas, Japan, Australien und einige weitere – ist die Kultur seit geraumer Zeit In früh industrialisierten Ländern ist die Kultur weitgehend auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern fokussiert weitgehend auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern einschließlich Geld fokussiert. Andere Erscheinungsformen wie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion, Sport und anderes mehr sind demgegenüber nachrangig. Viele Lebensbereiche sind der Rechenhaftigkeit des Ökonomischen unterworfen. Ökonomisches ist weithin der Maßstab für Erfolg oder Misserfolg insgesamt. Nicht nur die Wirtschaft, auch andere Bereiche werden nach ihrem Beitrag zur Mehrung von Wirtschaftsgütern bewertet. Die Mehrung von Wirtschaftsgütern gilt verbreitet als wichtigste Quelle der Sinnstiftung,

Die Stärke dieser Kultur ist eine in der Menschheitsgeschichte einzigartige Mehrung materiellen Wohlstands. Nachdem die Güter- und Dienstemenge pro Kopf der Bevölkerung über lange historische Zeiträume hinweg kaum zugenommen hatte, hat sie sich in den früh industrialisierten Ländern seit Mitte des 20. Jahrhunderts mehr als verfünffacht. Noch nie ging es in diesen Ländern so vielen Menschen materiell so gut wie jetzt. Die Bevölkerungen dieser Länder gehören allesamt einschließlich der wirtschaftlich Schwächsten zum wohlhabendsten Fünftel der Menschheit.

Die Schwäche einer solchen Kultur ist, dass sie früher oder später an Grenzen stößt Die Schwäche dieser Kultur ist, dass sie früher oder später an Grenzen stößt, die entweder überhaupt nicht oder nur unter Bedingungen überwunden werden können, deren Eintritt ungewiss ist. Zu diesen Grenzen gehören die Endlichkeit der physischen Welt, die ein immerwährendes Wirtschaftswachstum schon rein logisch ausschließt. Hinzu kommt der Verbrauch natürlicher Ressourcen. Die vorhandenen Ressourcen, vom Trinkwasser über Nahrungsmittel bis hin zu Bodenschätzen, namentlich Energieträgern, reichen beim derzeitigen Stand von Wissenschaft und Technik nicht aus, um eine wachsende Weltbevölkerung nach den Maßstäben der früh industrialisierten Länder oder überhaupt auskömmlich zu versorgen. Hätte beispielsweise China heute den gleichen Pro-Kopf- Energieverbrauch wie die USA, würde es die gesamte Weltenergieproduktion für sich benötigen. Ähnliches gilt für zahlreiche weitere Ressourcen. Ob diese Knappheiten durch innovative Durchbrüche in überschaubarer Zeit überwunden werden können, ist ungewiss.

Zu nennen ist ferner Die Belastung der Umwelt hat nicht nur regional, sondern auch global kritische Werte erreicht die Belastung der Umwelt. Sie hat nicht nur regional, sondern auch global kritische Werte erreicht. Dabei stehen viele Volkswirtschaften erst am Anfang massiv umweltbelastender Aktivitäten. Würden alle schon heute die Umwelt so belasten wie dies die Bevölkerungen der früh industrialisierten Länder tun – der Globus wäre vermutlich längst kollabiert. Und schließlich die schwindende Motivation. In den früh industrialisierten Ländern hat eine erhebliche Zahl von Individuen und Bevölkerungsgruppen einen materiellen Lebensstandard erreicht, der eine weitere Fokussierung auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern abnehmend einsichtig erscheinen lässt. Dies heißt nicht, dass alle in materiellem Wohlstand schwelgen. Darauf kommt es jedoch auch nicht an. Entscheidend ist, dass diejenigen, die Wachstum schaffen könnten, abnehmend hieran interessiert sind.

Weitere Begrenzungen der wirtschaftsfokussierten Kultur sind die in den früh industrialisierten Ländern weithin zahlenmäßig abnehmenden und stark alternden Bevölkerungen, eine zunehmende gesellschaftliche Heterogenität oder umgekehrt Schwindender gesellschaftlicher Zusammenhalt, Bildungsmängel oder spirituelle Verarmung sind nur einige weitere Begrenzungen der schwindende gesellschaftliche Zusammenhalt, Bildungs- und Qualifikationsmängel, vernachlässigte Kinder, Jugendliche und nicht zuletzt Alte, die Krise der Erwerbsarbeit, hohe öffentliche Schulden, steigende soziale Kosten, spirituelle Verarmung, spezifische Krankheitsbilder namentlich psychische Erkrankungen und anderes. Diese Begrenzungen sind die Kehrseite der Sicht-, Denk- und Verhaltensweisen, denen die früh industrialisierten Länder ihren hohen materiellen Lebensstandard verdanken.

Kultur der früh industrialisierten Länder weder zukunfts- noch verallgemeinerungsfähig

Bei alledem ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Grenzen der Kultur früh industrialisierter Länder umso schneller erreicht werden, als im Zuge der Globalisierung immer mehr Menschen danach streben, den Vorgaben dieser Kultur zu folgen und deren Wertekanon zu verinnerlichen. Deshalb dürfte rascher als sich das viele heute vorstellen offenbar werden,Eine Kultur, die auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern fokussiert ist, ist nicht zukunftsfähig dass eine Kultur, die auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern fokussiert ist, nicht dauerhaft zukunftsfähig und noch nicht einmal vorübergehend verallgemeinerungsfähig ist.

Dies hat weit reichende Konsequenzen. Denn eine Kultur, die weder zukunfts- noch verallgemeinerungsfähig ist, ist denen gegenüber, die den hohen materiellen Lebensstandard der früh industrialisierten Länder nicht haben (können), begründungs- und rechtfertigungspflichtig. Doch dieser Begründungs- und Rechtfertigungspflicht ist in einer transparenten Welt immer schwerer zu genügen.

Damit steht die Kultur der früh industrialisierten Länder von zwei Seiten unter Druck: Sie stößt an objektive Grenzen und zugleich nehmen die Benachteiligten immer heftiger Anstoß an ihr. Das zwingt die Früh industrialisierte Länder müssen ihren Lebensstil globalen Bedingungen anpassen früh industrialisierten Länder zu Verhaltensänderungen. Konkret: Sie müssen ihre Fokussierung auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern aufgeben und ihren Lebensstil globalen Bedingungen anpassen.

Diese Verhaltensänderungen stellen die Bevölkerungen der früh industrialisierten Länder vor erhebliche Herausforderungen. Denn sie sind in historisch einzigartiger Weise geprägt von Erwerbsarbeit, materiellem Wohlstand und Besitzstreben und zugleich haben sie ihr Wohl und Wehe von immerwährendem Eine Verhaltensänderung stellt die Bevölkerung dieser Länder jedoch vor erhebliche Herausforderungen Wirtschaftswachstum abhängig gemacht. Wirtschaftswachstum ist für sie nicht nur Grundlage ihres betont konsumorientierten Lebensstils und der beständigen Mehrung materiellen Wohlstands. Es ist für sie auch Voraussetzung eines hohen Beschäftigtenstandes und leistungsfähiger sozialer Sicherungssysteme. Aus ihrer Sicht beruht selbst die freiheitlich-demokratische Ordnung auf einer florierenden Wirtschaft. Ohne Wirtschaftswachstum – so ihre Überzeugung – keine stabile Demokratie.

Die früh industrialisierten Länder sind abhängig von materiellem Wohlstand und Wirtschaftswachstum Durch ihre Abhängigkeit von materiellem Wohlstand und Wirtschaftswachstum befinden sich die früh industrialisierten Länder und wachsende Teile der Welt in einer äußerst prekären Lage. Denn unabhängig davon, wie wünschens- und erstrebenswert die Mehrung von Wirtschaftsgütern sein mag – weder lässt sie sich nach Belieben steuern noch überhaupt gewährleisten. Vielmehr ist sie von Bedingungen abhängig, die nur zum Teil politischer oder sonstiger Einflussnahme zugänglich sind. Und diese Bedingungen haben sich, wie ich versucht habe darzutun, nachhaltig verschlechtert.

Neugewichtung kultureller Erscheinungsformen

Deshalb haben die Bevölkerungen der früh industrialisierten Länder gar keine andere Wahl als ihre physischen und psychischen Abhängigkeiten von materieller Expansion zu lockern und die derzeitige ökonomische Engführung zu überwinden. Sie müssen erkennen, dass die Wirtschaft und deren Wachstum kein Selbstzweck sind, Eine stagnierende oder auch schrumpfende Wirtschaft braucht kein Unglück zu sein sondern wie alle übrigen Erscheinungsformen menschlicher Kultur dienende Funktion haben. Eine prosperierende Wirtschaft kann ein Glück, eine stagnierende oder auch schrumpfende Wirtschaft braucht jedoch kein Unglück zu sein.

Die notwendigen Verhaltensänderungen werden erleichtert durch eine Neugewichtung materieller und immaterieller Erscheinungsformen menschlicher Kultur. Kommt es im materiellen Bereich zu Einschränkungen, dann muss dies kein Verlust sein, wenn im immateriellen Bereich ein Ausgleich geschaffen worden ist. Materieller und immaterielle Erscheinungsformen menschlicher Kultur bedürfen einer NeugewichtungEin solcher Ausgleich ist umfassende Bildung, größtmögliche Entfaltung von Kreativität auf jedem Niveau, Religion, ein verändertes Naturverständnis, eine umfassende musische Erziehung und Betätigung oder ein vertieftes Verständnis von Kunst.

Ein verlässliches gesellschaftliches Fundament muss alle Erscheinungsformen menschlicher Kultur umfassen. Eine der wichtigsten bleibt zwar die Wirtschaft. Doch dürfen Zustand und Leistung einer Gesellschaft nicht ausschließlich oder auch nur vorrangig nach wirtschaftlichen Maßstäben bemessen werden. Ebenso wichtig wie wirtschaftlicher Erfolg sind gesellschaftliche Befriedung, Gesundheit und Bildung, Wissenschaft, Kunst und Religion Ebenso wichtig wie wirtschaftlicher Erfolg sind gesellschaftliche Befriedung und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gesundheit und Bildung, Wissenschaft und Kunst, Religion, Natur und Umwelt und das subjektive Wohlbefinden der Menschen.

Allerdings sind, wenn die Fokussierung auf die Mehrung von Wirtschaftsgütern beendet und die früh industrialisierten Länder wieder auf die ganze Breite menschlicher Kultur gegründet werden, zahlreiche Fragen zu beantworten, die von größter Bedeutung für das gesellschaftliche und individuelle Leben sind. Wie beispielsweise soll die Teilhabe an der wirtschaftlichen Wertschöpfung oder die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme in einem veränderten kulturellen Gefüge gewährleistet werden? Solche und ähnliche Fragen sind für das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Wissenschaften und Künste, den Sport und anderes mehr zu beantworten. Dabei sollte der Leitgedanke bei der Suche nach zukunftsweisenden Antworten die Einsicht Albert Einsteins sein:

„Die Probleme, die es in dieser Welt gibt, sind nicht mir der selben Denkweise zu lösen, mit welcher sie erzeugt worden sind.“

Albert Einstein

Deshalb sollte die Botschaft des ersten Weltkulturgipfels des Internationalen Forums für Kultur und Wirtschaft Forum Tiberius sein: Die nachhaltige Erweiterung des kulturellen Spektrums über den Bereich der Wirtschaft hinaus ist nicht nur ein generelles und immer berechtigtes Anliegen, sondern eine Notwendigkeit. Denn die ökonomisch dominierte Kultur der früh industrialisierten Länder hat ihren Zenit überschritten. Sie ist in ihrer derzeitigen Erscheinungsform nicht länger zukunftsfähig.

Kultur ist mehr – als erfolgreiches Wirtschaften.

Die unerwiderte Liebe der Menschen zum Kapitalismus

 

Die überforderte Gesellschaft

Besser statt mehr – Wohlstand ohne Wachstum

Zu hoch gepokert

Hybris. Die überforderte Gesellschaft

Ein Buch von Meinhard Miegel

März 2014

Ein Buch von Meinhard Miegel

März 2014

Größenwahn und Selbstüberschätzung sind Teil der menschlichen Natur. Doch erst heute werden sie als Erfolgsfaktoren kultiviert. Die Folgen sind krankhaft wuchernde Wirtschaftsaktivitäten, entfesselte Finanzmärkte, dysfunktionale Bildungs- und Infrastrukturen, aus dem Ruder laufende Großprojekte, unkontrollierbare Datenmengen und globales Allmachtstreben. Meinhard Miegel, einer der profiliertesten Vordenker Deutschlands, sieht in dieser allgegenwärtigen Hybris die wesentliche Ursache für die tiefgreifende Krise von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Die exzessive Entwicklung unserer Lebenswelt, die Miegel eindringlich schildert, überfordert alle: Einzelne und Gruppen, Unternehmen, Schulen und Universitäten, Parteien, Regierungen und internationale Organisationen. Ihre Kosten sind enorm, keine Volkswirtschaft kann sie stemmen. Die Lösung des Problems ist erprobt und zuverlässig: Es ist die Kunst der Beschränkung – die Rückkehr zu einem menschlichen Maß, das unsere individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen schont und in ein neues Gleichgewicht bringt. Worin diese Kunst besteht, macht Miegel an vielfältigen Beispielen eindrucksvoll deutlich.

Taschenbuch
€ 12,00 [D] € 12,40 [A], sFr 13,90
ISBN-13 9783548612737

eBook / Format: EPUB
€ 19,99 [D], € 19,99 [A], sFr 30,00
ISBN-13: 9783843707671

Rezensionen

"Selbst denken, selbst Akzente setzen, selbst handeln – solche Appelle sind nicht neu. Dennoch ist Miegels Buch ein wichtiger und lesenswerter Beitrag für alle, die sich in die Diskussion um Wachstum und Wohlstand einschalten wollen.Martin Roos

"Miegel legte mit vielen Beispielen den Finger in die Wunden der Welt.Monika Herold

"Meinhard Miegel bespricht in seiner aufrüttelnden und nachdenklich stimmenden Publikation viele, vielen am Herzen liegende brisante Themen.Edgar Hülswitt

Das Wohlstandsquintett 2014

Spätestens seit dem Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" vom Mai 2013 steht fest, dass sich der Wohlstand eines Landes mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur unzulänglich erfassen lässt. Nicht minder bedeutsam als die vom BIP gemessene Güter- und Dienstemenge ist deren Verteilung, der mit ihr einhergehende Natur- und Ressourcenverbrauch und anderes mehr. Trotzdem wird die Wohlstandsmessung weiter vom BIP dominiert.

Um den Wohlstand Deutschlands und anderer EU-Länder zutreffender als durch das BIP zu erfassen, hat das Denkwerk Zukunft sein 2011 entwickeltes Wohlstandsquintett, bestehend aus dem Pro-Kopf-BIP, der 80/20-Relation, der gesellschaftlichen Ausgrenzungsquote, dem ökologischen Fußabdruck und der Schuldenquote, in diesem Memorandum fortgeschrieben.