Souveränität

Gedanken im September

Gedanken im September

Ein Gespenst geht um in Europa. Doch diesmal ist es nicht - wie Karl Marx vor 170 Jahren wähnte – das Gespenst des Kommunismus, sondern das Gespenst der Souveränität, das immer mehr in seinen Bann zu ziehen scheint. Wer reklamiert nicht alles Souveränität, sprich Unabhängigkeit, Überlegenheit, Sicherheit? Pubertierende Jugendliche, Wasserwirtschaftsverbände, Gemeinden und selbstverständlich Staaten und Staatengemeinschaften. Was ist das gemeinsame Credo von Briten, Italienern, Ungarn, Polen und nicht zuletzt auch Deutschen? Wir wollen unsere Souveränität!

Nun ist gegen dieses Begehren an sich nichts einzuwenden. Was soll verwerflich sein an Unabhängigkeit, Überlegenheit und Sicherheit? Allein, Der Forderung nach Souveränität fehlt die Substanz diesem Begehren fehlt die Substanz und das macht es so gespensterhaft. Denn wer oder was kann unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts unabhängig und sicher sein? Diese Frage stellt sich sogenannten Großmächten wie den USA oder China im Prinzip nicht anders als den walisischen Kleinbauern, die ihr Votum für einen Brexit lautstark mit der Wiedererlangung ihrer Souveränität begründen.

Wie eng die Souveränitätsgrenzen gezogen sind, erfährt der Bürger spätestens dann, wenn er seine Alters- und Krankenvorsorge nach eigenen Vorstellungen organisieren will. Dies wird ihm unter Androhung empfindlicher Sanktionen verwehrt. Oder was ist mit Eltern, die mit ihren Kindern einen anderen als den staatlich etablierten Bildungsweg einschlagen wollen? Was ist mit beruflichen Karrieren, Bauordnungen oder den tausend Regeln und Vorschriften, die den Alltag jedes einzelnen bis zum Ersticken einschnüren? Für viele dieser Restriktionen gibt es einsichtige Gründe. Was aber bedeutet dann noch Souveränität?

Nicht anders ergeht es Staaten und Staatengemeinschaften, auch denen, die besonders laut auf ihre Souveränität pochen. Selbst ein Donald Trump musste schnell einsehen, Beschränkte Macht dass die Macht des „mächtigsten Mannes“ der Welt bei Licht besehen doch recht beschränkt ist. Oder die Exiteers, denen es zwar frei steht, die EU zu verlassen, die sich aber ganz schnell in neuen und wahrscheinlich unbequemeren Bindungen als den bisherigen wiederfinden werden.

Wie immer man es wendet: Die Epoche, in der jeder seines Glückes Schmied sein sollte und mitunter auch konnte und blutige Kriege zur Verteidigung oder Wiedererlangung nationaler Souveränität geführt wurden, ist zu Ende gegangen. Jetzt gilt es, sich einzubringen in größere Einheiten von Individuen bis hin zu Staaten. Unabhängigkeit und Überlegenheit und ganz gewiss auch Sicherheit sind in Alleingängen nicht mehr zu verwirklichen. Der stolze Held, der unbeirrt seinen eigenen Weg geht und von niemandem abhängig ist, ist ein Phantom. Wenn Nationalstaaten von der Wiederherstellung vergangener Größe träumen, dann ist das rührend oder tragikomisch aber keinesfalls visionär.

Die Epoche der Postsouveränität erfordert neue Qualitäten, neues Denken und eine neue Kultur. In dieser Epoche ist es absurd, Positionen zu vertreten wie: Diese Stadt oder dieses Land gehört uns. Keine Exklusivrechte mehr Denn Exklusivrechte gibt es nicht länger. Das heißt nicht, dass alles allen gehört. Doch wem was gehört, gilt es immer wieder auszuhandeln. Wirklich souverän ist hierbei keiner - ganz gewiss nicht im Großen und nur ausnahmsweise im Kleinen.

Pflegenotstand

Gedanken im August

Gedanken im August

Gemessen am Mittel- und Personalaufwand hat sich der Pflegebereich zu einer tragenden Säule des Sozialsystems entwickelt. Nachdem vor vierzig Jahren die Bayerische Beamtenkrankenkasse noch recht zögerlich ein Pflegekostentagegeld einführte, dauerte es volle siebzehn Jahre, ehe der Bundesgesetzgeber 1995 eine umfassende Soziale Pflegeversicherung verabschiedete. Doch dann ging es mit sich beschleunigendem Tempo Schlag auf Schlag: 2002 ein Pflegeleistungsergänzungsgesetz, 2012 ein Pflege-Neuausrichtungsgesetz, 2015 ein Pflegestärkungsgesetz 1, 2017 ein Pflegestärkungsgesetz 2. Und weitere kosten- und personalintensive Maßnahmen sind in Vorbereitung. Die Wirkungen sind beträchtlich. Abgesehen von einem gewaltigen Haushalt hat sich allein in den zurückliegenden zwanzig Jahren die Zahl der im Pflegebereich Beschäftigten mit mehr als 1,1 Millionen annähernd verdoppelt. Und das Ergebnis: anhaltender, nein zunehmender Pflegenotstand.

Was ist da zu tun? Noch mehr Geld, noch mehr Pflegende? Vielleicht. Vielleicht ist aber auch die Zeit reif für die Einsicht, dass unsere Gesellschaft weder fürsorglich noch achtsam, weder mitfühlend noch pfleglich ist. Keine fürsorgliche Gesellschaft Da wird gnadenlos auf Kosten der Nachwachsenden gewirtschaftet und konsumiert. Da verlassen hunderttausende zumeist Väter ihre minderjährigen Kinder, wohlwissend, dass sie damit nicht selten diese in relative Armut und ins soziale Abseits stoßen. Da setzen Interessensverbände selbst partikularste Interessen durch und lassen andere dafür zahlen. Da werden Lebensstile zelebriert, die unvermeidlich Mitmenschen hierzulande und weltweit leiden lassen.

Nein, dies ist keine Gesellschaft von Gutmenschen und Kümmerern, von Sorgenden und Tröstenden und nicht zuletzt von Pflegenden in des Wortes umfassender Bedeutung. So gesehen ist der zu recht beklagte Pflegenotstand nur ein Glied in einer Kette, die sich für viele durch das ganze Leben zieht und allein mit Geld kaum zu durchbrechen ist.

Denn es ist auch eine Form von Pflegenotstand, wenn eine hoch schwangere Frau oder ein sichtlich gebrechlicher Greis in einem voll besetzten Bus stehen müssen, Pflegenotstand hat viele Gesichter während es sich junge Männer und Frauen auf den Sitzen bequem gemacht haben. Es ist auch eine Form von Pflegenotstand, wenn Kinder in der Schule und Erwachsene am Arbeitsplatz einander brutal mobben, wenn Menschen erst durch den Verwesungsgeruch auf den Tod ihres Nachbarn aufmerksam werden.

In einem wirtschaftlich so wohlhabenden Land wie Deutschland ist Pflegenotstand nicht so sehr ein finanzielles als vielmehr ein kulturelles Problem. Was ist los mit einer Gesellschaft, die sich überlebenswichtige Kümmerer und Sorgende, von der Altenbetreuerin bis hin zum Seelsorger aus immer ferneren Ländern holen muss, weil im eigenen Land der Dienst am Nächsten als uncool gilt? Wo sind in dieser Gesellschaft die Kindergärten und Schulen, die Universitäten und Betriebe, die zu Empathie und Rücksichtnahme befähigen oder diese zumindest zulassen?

Deutschland als rohstoffarmes Land ist gut beraten, die Hirne seiner Bürger zu entwickeln. Aber es wird scheitern, wenn es nicht zugleich deren Fähigkeit zu Anteilnahme, wHirn und Herz echselseitigem Verständnis, Gemeinsinn oder kurz deren Mitmenschlichkeit entfaltet. Nur dann wird auch der die ganze Gesellschaft betreffende Pflegenotstand überwunden werden können. Alles andere ist Stückwerk.

Hoffart

Gedanken im Juli

Gedanken im Juli

Noch bis in die 1960er Jahre hinein fand es sich nicht nur in den Beichtspiegeln der katholischen Kirche, zugleich galt es als die erste und schlimmste der sieben Hauptsünden: das Laster der Hoffart. Inzwischen ist nicht nur der Begriff aus der Mode gekommen. Auch das, wofür er stand, hat an Verwerflichkeit eingebüßt: Hochmut, Anmaßung, Überheblichkeit, Eitelkeit, Selbstgerechtigkeit, Narzissmus…

Wie selbstverständlich und gesellschaftlich akzeptiert das alles geworden ist, wird deutlich, Hoffart die erste der Hauptsünden wenn dem Laster der Hoffart die kontrastierenden Tugenden gegenübergestellt werden: Demut und Bescheidenheit. Wer will in der Welt von heute noch demütig und bescheiden sein? Dann lieber anmaßend, überheblich und eitel.

Ganze Erwerbszweige haben sich aufgemacht, just solche Attribute zu fördern. Ihr Daseinszweck ist es, alles und jedes zum Strahlen zu bringen und sei es bei Licht besehen auch noch so kümmerlich. Ihr Wirkungsbereich ist beinahe grenzenlos und ihre Erfolge sind beträchtlich.

Das beginnt mit dem zur Manie gesteigerten Selfie- und Facebook-Auftritten und endet bei den vielen Größenwahnsinnigen, die im Lauf der Geschichte geglaubt haben, ihr Volk oder besser noch die ganze Welt beherrschen zu können und zu müssen. Dazwischen liegt ein weites Feld, auf dem jedweder gesellschaftliche Bereich angesiedelt ist, Hoffart ist überall sei es die Wissenschaft, die Kunst, die Wirtschaft und ganz besonders die Politik. Sie alle sind vollgepfropft mit Hochmut und Anmaßung, Überheblichkeit und Eitelkeit, Selbstgerechtigkeit und Narzissmus.

Welchem Wissenschaftler, welcher Wissenschaftlerin kommt es schon leicht über die Lippen, dass ihr Wissens- und Könnensschatz in Wahrheit äußerst begrenzt ist und große Lücken aufweist? Welcher Künstler tritt schon bescheiden hinter sein Werk zurück und räumt ein, dass nicht nur er, sondern eine ganze Epoche es geschaffen hat? Was wären die Berühmtheiten ihrer Zeit, die Musiker, Maler, Bildhauer, Dichter und Architekten ohne die Heerscharen derer, die im Dunkeln oder Halbdunkeln das Material bereitstellen, das sie verarbeiten?

Und dann die Wirtschaft. Da gibt es Männer und Frauen, Anspruch auf das Hundert- oder Zweihundertfache die mit großer Selbstverständlichkeit für sich das Hundert- oder Zweihundertfache dessen beanspruchen, was sie ihren Mitarbeitern zugestehen, obwohl sie ohne diese keinen Tag überdauern würden – hochmütig, anmaßend, überheblich.

Schließlich die Politik. Nicht wenigen ihrer Repräsentanten fällt es offenkundig äußerst schwer, sich und anderen einzugestehen, dass sie, wie alle, fehlsame, von Vorurteilen und Launen gebeutelte Menschen sind, die viel weniger vermögen, als sie auf offener Bühne vorgaukeln. Die Tragik: Die Hoffart von Politikern reißt oft mehr mit als sie selbst. Sie hat schon ganze Reiche zum Einsturz gebracht.

Vielleicht lagen die Altvorderen gar nicht so verkehrt, als sie schon vor über 1500 Jahren das Laster der Hoffart, der Anmaßung und Überheblichkeit zur ersten der Hauptsünden erklärten, einer Sünde also, in der zahlreiche weitere Sünden wurzeln. Vielleicht waren wir Nachgeborenen etwas zu voreilig, dieses Laster zunächst zu bagatellisieren und ihm allmählich das Mäntelchen einer Tugend umzuhängen. Demut statt Hoffart Große Veränderungen beginnen im Kopf. Wie wäre es mit dieser: Demut statt Hoffart in allen Bereichen gesellschaftlichen Miteinanders. Das klingt wie ein Echo aus längst vergangener Zeit und ist doch brennend aktuell.

Wettbewerb

Gedanken im Juni

Gedanken im Juni

Amerika first. Italien, Ungarn, Polen first. Und was Staaten recht ist, ist Verbänden, Unternehmen und selbst Einzelpersonen billig. Alle wollen, dass ihre Interessen Vorrang genießen, sie an der Spitze stehen, Sieger sind. Der Weg dorthin? Wettbewerb.

Er beginnt in der Kita, setzt sich in der Schule und im Erwerbsleben fort und endet selbst im Alter nicht. Das ganze Leben ist durchdrungen von Wettbewerb. Spätestens seit Anbruch des Kapitalismus Wettbewerb ist das gesellschaftliche Leitbild ist er das gesellschaftliche Leitbild. Gesellschaften, die auf sich halten, sind Wettbewerbsgesellschaften. Diese Gesellschaften haben es weit gebracht. Zumindest sind sie erfolgreicher und in der Regel materiell wohlhabender als andere. Ein Hoch auf den Wettbewerb!

Wettbewerb macht auch Spaß. Das beweisen die zahlreichen Fans, die regelmäßig ihre Matadoren anspornen und ihnen gegebenenfalls zujubeln. Doch da scheint bereits das hässliche Gesicht des Wettbewerbs auf. Denn wo es Gewinner gibt, gibt es Verlierer. Den Siegern stehen Besiegte gegenüber. Wie gehen einzelne, Gruppen oder Völker hiermit um?

Die Beantwortung dieser Frage rührt an den Kern von Kultur.Der Preis: Gewinner und Verlierer Als Kain im Wettstreit um Gottes Gunst seinem Bruder Abel unterliegt, erschlägt er ihn. Ein probates Mittel war das nicht, auch wenn es in der Folgezeit immer wieder praktiziert wurde. Die Menschen mussten nach besseren Wegen suchen.

Dabei erwiesen sie sich als bemerkenswert kreativ. Der Sieger wurde zu Großmut angehalten, die Niederlage verbrämt. Zählte bei den olympischen Spielen der Antike ausschließlich der Sieger (der Verlierer hatte sich ganz ähnlich wie im Tierreich zu trollen), so heißt es heute begütigend, wenn auch nicht sehr glaubwürdig: „Dabei sein ist alles.“

Doch damit ist das Problem nicht aus der Welt. Vielmehr stellt es sich tagtäglich aufs Neue und nirgendwo stellt es sich schärfer als in den heutigen Wettbewerbsgesellschaften. Ist ein gedeihliches Zusammenleben überhaupt möglich? Wie ist hier ein gedeihliches Zusammenleben von Gewinnern und Verlierern, von Siegern und Besiegten möglich? Ist es überhaupt möglich?

Der Blick in die Geschichte stimmt wenig hoffnungsfroh. Auf Dauer hat es nie funktioniert. Weder waren die Gewinner bescheiden und demütig genug, noch hatten die Verlierer die nötige Langmut. Fast ohne Ausnahme endeten Staaten und Zivilisationen in diesem Konflikt: Die Verlierer begehrten gegen die Gewinner auf und diese erwiesen sich nicht selten als unterlegen.

Das sollte zu denken geben. Denn die heutigen Wettbewerbsgesellschaften sind in ihrem ständigen Ringen um Vorherrschaft gerade dabei, sich buchstäblich zu zerlegen. So segensreich Wettbewerb sein kann und oft auch ist. Er kann auch ein verzehrendes Feuer sein.

Auch der Wettbewerb bedarf deshalb - wie alles Menschenwerk – kluger Beschränkung. Stets der Erste sein zu wollen ist nicht nur im Leben des einzelnen ein fragwürdiges Ziel. Wettbewerb bedarf der Beschränkung Im Leben von Gemeinschaften und Völkern kann seine Verfolgung zerstörerisch wirken. Die Einbettung in Gemeinschaft, das Sozialverträgliche ist nicht nur ebenso wichtig wie Wettbewerb. Es ist überlebenswichtig.

Positionen

Gedanken im Mai

Gedanken im Mai

Der Maifeiertag hat ihn erneut ins öffentliche Bewusstsein gebracht – den fairen Lohn. Was aber ist ein fairer Lohn? Bei einem sozial und human vertretbaren Arbeitseinsatz soll er ein auskömmliches Leben ermöglichen. Was aber ist sozial und human vertretbar und was ist auskömmlich? Die etwa 5 Euro, die kaufkraftbereinigt der kenianischen Teepflückerin nach einem 10 Stunden-Tag zuerkannt werden oder die 90 Euro, die eine Erdbeerpflückerin in Deutschland nach acht Stunden Arbeit erhält?

Dann eben Leistung. Wer viel leistet, soll mehr haben als einer, der wenig leistet. Wie aber misst man Leistung? Beim Akkordarbeiter oder bei einfachen Diensten mag dieses Kriterium noch sinnvoll sein. Aber dann? Was hätte der Rat der Stadt Leipzig seinem Thomaskantor Bach zahlen müssen, um seine Leistung fair zu entlohnen? Der Mann war unbezahlbar! Oder wie soll die Leistung eines Unternehmensvorstands gemessen werden, dessen Erfolg oder Misserfolg zu großen Teilen von Umständen abhängt, Leistungsgerechter Lohn - eine Fiktion auf die er nicht den geringsten Einfluss hat? Nein, der faire, weil leistungsgerechte Lohn war schon immer eine Fiktion.

Was aber entscheidet dann über den „fairen Lohn“? Die deutschen Gewerkschaften versuchen gar nicht erst, hierauf eine schlüssige Antwort zu geben. Stattdessen lassen sie ihre Mitglieder mit erfrischender Ehrlichkeit skandieren: Mehr Lohn, weil wir uns das wert sind.

So verstörend dies sein mag: Bei Licht besehen bestimmt weder die Auskömmlichkeit noch die Leistung die Einkommenshöhe, Position bestimmt Einkommenshöhe sondern die bekleidete Position. Es gibt Positionen, da können die Menschen machen was sie wollen, sie kommen nie auf einen grünen Zweig. Und es gibt andere, da sprudeln die Quellen, unabhängig davon, was dort geleistet wird.

Was Wunder, dass individuelles und gesellschaftliches Ringen im Kern vor allem darum geht, sich richtig zu positionieren - die richtige Lohnstufe, die richtige Gehaltsgruppe, die richtige Sprosse auf der Karriereleiter… Das ist für das Wohlergehen des einzelnen ungleich bedeutsamer als die erbrachte Leistung. Diese ist allenfalls Mittel zum Zweck, sich bestmöglich zu platzieren.

Die meisten wissen das, weshalb sie für das Erklimmen einer lukrativen Position oft mehr Energie aufwenden als für die mit ihr einhergehenden Anforderungen. Zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein zählt zumeist mehr als viel zu wissen, zu können und sich selbstlos einzubringen. Und weil das so ist, wird gezogen und geschoben, werden Beziehungen und Netzwerke geknüpft, werden einmal erlangte Privilegien zäh verteidigt und wenn irgend möglich an Kinder und Günstlinge weitergereicht.

So ist der Mensch. Kampf um Positionen behindert gesellschaftliche Erneuerung Aber dem allgemeinen Wohl ist dieses Verhalten höchst abträglich. Denn es behindert die Freisetzung schöpferischer Kräfte und die fortdauernde Erneuerung der Gesellschaft. Eine Kultur, die derartiges Denken und Handeln fördert, schwächt sich. Fördern sollte sie vielmehr die Bereitschaft der Menschen, sich ein wenig von ihren archaischen Neigungen zu lösen und ihre Positionen nicht bis zum Äußersten zu nutzen. Vielleicht ist es ja für alle ein Vorteil, hin und wieder einem weniger Beziehungsreichen aber Fähigeren den Vortritt zu lassen. Die Menschen im alten China sind jedenfalls mit dieser Vorgehensweise jahrhundertelang gut gefahren.

Leere Feste

Gedanken im April

Gedanken im April

Alles wie gehabt: Ostereier, Osterhasen (vorzugsweise aus Schokolade), Osterschinken (abhängig von der Region), Osterspaziergänge (oder besser noch Osterreisen an mehr oder minder ferne Gestade) und anderes mehr, was sich hübsch an Ostern schmiegt. Und wie gehabt fehlte auch diesmal für die meisten das, was dereinst als geistiger Gehalt, als Spiritualität eines solchen Fests bezeichnet worden ist.

Feste als Brauchtumspflege Nun sind ganz sicher eine gewisse Brauchtumspflege und das Setzen von Zäsuren im Jahresverlauf ein Wert, der nicht gering erachtet werden sollte. Aber genügt das, um eine Gesellschaft auf Dauer auf einem kulturell und zivilisatorisch gehobenen Niveau zu halten? Oder verliert eine solche auf Brauchtumspflege beschränkte Gesellschaft nicht früher oder später ihre geistige Substanz?

Feste zu feiern – das bedeutete kulturgeschichtlich immer auch inne zu halten und sich singulär menschlicher Fähigkeiten und Bedürfnisse jenseits von Nahrung und Obdach bewusst zu werden. Feste zu feiern heißt innehalten Bei Festen ging es ganz wesentlich um Anfang und Ende, Werden und Vergehen, Schuld und Vergebung, Erfolg und Scheitern, kurz, es ging um Dimensionen, die nur der Mensch durchmessen kann.

Das gilt nicht nur für den christlichen Jahreskreis. Vielmehr finden sich die spirituellen Kerne, die eigentlichen Anliegen von Weihnachten, Ostern, Pfingsten und zahlreicher anderer christlicher Feste in der einen oder anderen Form in allen Religionen wieder. Sie alle wollen über das Hier und Heute hinausweisen und nicht zuletzt dadurch dem Menschen einen Rang geben, den er als bloßer Produzent und Konsument materieller Güter nie erlangen kann.

Genau hierauf reduziert ihn jedoch die heutige Festtagspraxis der westlichen Welt. Der Mensch soll genießen, möglichst viel essen und trinken, Geschenke empfangen und verteilen und seinem Mobilitätsdrang ungehemmt frönen. Mehr wird von ihm nicht erwartet und zu mehr sind die meisten wahrscheinlich auch gar nicht mehr in der Lage. Konsumfestivals statt Feste Denn sie sind die Geschöpfe einer Kultur, die überaus erfolgreich Feste durch Konsumfestivals ersetzt hat.

Welche Folgen dies hat, ist schon jetzt erkennbar. Unsere Kultur verarmt, woran auch prachtvolle Museumsbauten, spektakuläre Ausstellungen und großartige Konzerte wenig ändern. So wertvoll das alles ist, es ist kein Ersatz für das Streben einer Gesellschaft, sich aus allzu großer Erdennähe zu erheben und über sich selbst hinauszuwachsen. Feste, zumindest jene, die als Zäsuren im Leben einer Gesellschaft gedacht waren, waren die Zielmarken solchen Strebens.

Sie sind dies nicht länger. Wer in ihnen noch geistigen Gehalt sucht, sucht weithin vergebens. Die Welt, sie ist nicht so. Vom Zauber, den man einst in ihr zu spüren meinte, ist nicht viel geblieben. Das, was heute als Fest bezeichnet Richtige Feste zu feiern, erfordern große Anstrengungen und in der Regel durch die Befreiung von Erwerbsarbeit aus dem täglichen Einerlei herausgehoben wird, spiegelt die Leere wider. Wieder richtige, geistig gehaltvolle Feste zu feiern, bedarf großer individueller und kollektiver Anstrengungen. Doch ohne diese Anstrengungen wird die Entleerung unserer Kultur weiter voranschreiten.

Bändigt die Kultur!

Von Menschen, Männern und Frauen

Gedanken im März

Gedanken im März

„Und Gott schuf den Menschen…als Mann und Frau“. Auch wenn diese Erkenntnis ihren Niederschlag bereits vor schätzungsweise 3000 Jahren im Alten Testament gefunden hat, hat sie bisher die Kulturen nur in Bruchstücken durchdrungen. Manche haben sich ihr sogar ganz verschlossen. Der Mensch als Mann und Frau!

Die Lebenswirklichkeit ist immer noch manndominiert. Manndominierte Lebenswirklichkeit Zwar hat hier vornehmlich in der sogenannten westlichen Welt in historisch neuer Zeit ein gewisses Umdenken eingesetzt. Aber das Frauenwahlrecht gibt es in den meisten Ländern gerade einmal hundert Jahre, Frauen an der Spitze eines Unternehmens oder Orchesters sind immer noch Ausnahmen und die Forderung nach speziellen Frauenquoten hat sich längst nicht erübrigt. Lediglich im Erziehungs- und Gesundheitsbereich und zunehmend in der Justiz sind Frauen inzwischen unübersehbar präsent.

Frauen, die außerhalb dieser Bereiche ihren Weg gehen wollen, tun sich jedoch nach wie vor leichter, wenn sie sich in Präferenzen, Sprache, Habitus und anderem mehr der Männerwelt anpassen. In Maßen dürfen sie sein wie Frauen. Aber denken und handeln sollen sie möglichst wie Männer.

Wie schwer es offenkundig nicht nur Männern sondern auch Frauen fällt, Ungewohnt Weibliches das Weibliche im gesellschaftlichen Miteinander zu akzeptieren und vielleicht sogar zu schätzen, zeigt sich in diesen Wochen und Monaten geradezu paradigmatisch bei der Kritik an der Bundeskanzlerin. Prüft man etwas genauer, woran sie sich entzündet, dann sind dies ausnahmslos Entscheidungen, die die meisten Männer vermutlich anders, wenn auch nicht richtiger getroffen hätten.

Im Kern ging es jedes Mal um einen Konflikt zwischen Menschen und Normen, der durch die Kanzlerin zugunsten von Menschen entschieden wurde: Entscheidung zugunsten von Menschen Rettungsschirme für Griechenland, Abschaffung der Wehrpflicht, eine Energiewende unter dem Eindruck der Kernkraftkatastrophe von Fukushima und schließlich die Entscheidung, Kriegs- und andere Flüchtlinge in großer Zahl nach Deutschland einreisen zu lassen.

Die Art und Weise, wie diese Entscheidungen zustande kamen und begründet wurden, haben vielen nüchternen Beobachtern nicht ohne Grund die Haare zu Berge stehen lassen. Wieder und wieder wurden Recht, Gesetz und althergebrachte Gewohnheiten gestaucht und gedehnt. Aber allen diesen Entscheidungen liegt eine gewisse Fürsorglichkeit zugrunde, die bei Männern eher selten anzutreffen ist: Das kann man den Menschen nicht zumuten! Hier müssen kreative Lösungen her! Hier müssen Normen weichen!

Wenn nicht alles täuscht, Beginn einer spannenden und fruchtbaren kulturellen Epoche bahnt sich hier ein tiefgreifender kultureller Wandel an, der uns allen noch viel abverlangen wird. Nicht nur staatliche und rechtliche Ordnungen, auch die Kunst, die Technik, die Formen, in denen wir miteinander umgehen, Feste feiern, Konflikte austragen und im äußersten Fall Kriege führen, werden – je länger je mehr – von Menschen gestaltet werden, die geschaffen wurden als Mann und Frau. Das ist nicht mehr und nicht weniger als der Beginn einer kulturellen Epoche, mit der wir bisher nicht vertraut sind, die aber mit Sicherheit spannend und fruchtbar sein wird.

Prozente

Gedanken im Januar

Gedanken im Januar

Das Symbol für Prozente, das uns in der Produktwerbung fortwährend entgegenstrahlt, ist zu einem magischen Zeichen geworden. Seine Botschaft: Hier geschieht Gutes. Der Anbieter von Gütern oder Diensten verlangt vom Nachfrager weniger als er eigentlich verlangen könnte.

Eine noble Haltung, die allerdings in neuerer Zeit Ausmaße angenommen hat, die nachdenklich stimmen sollten. Zwanzig oder dreißig Prozent sind beinahe zur Regel geworden und sechzig oder siebzig Prozent keine Seltenheit mehr. Prozente gibt es überall Und Prozente gibt es immer und überall – als Vorweihnachts-, Weihnachts- oder Nachweihnachtsbonus, bei Sortimentsumstellungen, Geschäftsverlegungen oder Firmenjubiläen oder einfach nur so. Einen Anlass gibt es immer.

Ginge es hier mit rechten Dingen zu, müssten die Wirtschaft und namentlich der Handel längst an Auszehrung zu Grunde gegangen sein. Aber nichts dergleichen ist zu beobachten. Mehr noch: Je generöser sich die Anbieter geben, desto üppiger gedeihen sie.

Nun gibt es zweifellos Fälle, in denen einem redlichen Kaufmann das Wasser bis zum Halse steht und er seine Ware um fast jeden Preis losschlagen muss. Die Regel ist dies allerdings nicht. In der Regel ist die Welt der Prozente, Eine Welt chronischer Überproduktion Rabatte und Vergünstigungen eine Welt chronischer Überproduktion und verstopfter Vertriebswege, eine Welt der Mondpreise, Nepper, Gaukler und im Ergebnis übervorteilten Verbraucher oder kurz, eine aus den Fugen geratene, kranke Welt.

Bei Gelegenheiten wie Weihnachten ist dies trefflich zu besichtigen. Der Stellenwert solcher Feste bemisst sich fast nur noch nach den getätigten Umsätzen. Sind diese hoch, ist alles in Ordnung. Anderenfalls ist es ein trauriges Fest. Aber die Menschen sind ja willig. Pro Kopf gaben sie in Deutschland 2017 fast 500 Euro für Geschenke aus – abzüglich Prozenten versteht sich.

Wo aber ist in Gesellschaften, in denen selbst einstmals kirchliche Feste kaum noch etwas anderes sind als rauschhafte, mit allen Mitteln der Vertriebstechnik angekurbelte Konsumorgien, die Ritze, durch die noch etwas anderes dringen kann? Gibt es noch etwas anderes als Konsumorgien? Gewiss gibt es Menschen, die sich von diesen mehr oder weniger abgewandt haben, und ihre Zahl scheint sogar zu steigen. Aber der Weg von hier bis hin zu einer Geisteshaltung, die über den einzelnen hinausweist, ist weit.

Menschen haben um diese Geisteshaltung gerungen, seitdem sie sich ihrer selbst bewusst wurden. Sonderlich erfolgreich waren sie damit jedoch nicht. Jedenfalls dröhnen sich heute die meisten mit dem Allerbanalsten zu, mit Dingen, die sie kaum zufriedener, geschweige denn glücklicher machen. Sie haben verlernt, innezuhalten und ihre eigentlichen, auch spirituellen Bedürfnisse zu erkennen.

Ein kleines Experiment mag hilfreich sein: für eine Weile konsequent Augen und Ohren vor jenen verführerischen Rabatten, Prozenten, Sales und Sonderaktionen verschließen und nur das erwerben, was man wirklich braucht. Erwerben was man wirklich braucht Das könnte nicht nur eine Erholung für den eigenen Geldbeutel sein, sondern zugleich auch ein Anreiz für eine sachgerechtere Preisgestaltung mit weniger aufgeblähten Phantasiepreisen und -rabatten. Das wäre nicht zuletzt ein Beitrag zu einem redlicheren, faireren Markt und eine große kulturelle Leistung.

Gemeinsinn

Gedanken im Februar

Gedanken im Februar

Wenn es viele Monate dauert, ehe es in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen nach einer Wahl zur Regierungsbildung kommt, fragen nicht nur Spötter: Ist es wirklich so mühsam, ein Land wie Deutschland zu regieren? Die ehrliche Antwort ist: Ja, es ist und wird von Mal zu Mal mühsamer. Was einst als Besonderheit von Italienern, Franzosen und einigen anderen angesehen wurde, ist keine Besonderheit mehr. Nach und nach scheinen alle freiheitlichen Staaten ihrer Unregierbarkeit zuzustreben. Denn alle sind von einem Spaltpilz befallen, der sie nicht nur in Teile zerlegt, sondern geradezu pulverisiert.

Belege hierfür finden sich in allen Bereichen, von den Parlamenten bis hin zu den Familien. Im Bundestag beispielsweise sind ja mittlerweile nicht nur sieben Parteien vertreten – das hat es auch früher gelegentlich gegeben – nein, Die Parteien zerfallen jede dieser Parteien zerfällt in weitere Parteiungen, die keineswegs harmonisch zusammenwirken. Im Grunde ließen sich unschwer zwei Dutzend politisch eigenständige Fraktionen bilden, was nur deshalb nicht geschieht, weil dann zu viele durch den Rost der Fünf-Prozent-Klausel fielen.

Dieser Zerfall setzt sich fort in Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten und Vereinen. Da kann man oft nicht miteinander. Zu unterschiedlich sind die Interessen und zu groß die Verlockungen, diese Unterschiede auszuleben. Wozu auf die Belange anderer Rücksicht nehmen? Die tun das doch auch nicht. Schließlich ist sich jeder selbst der Nächste. Das war das vielleicht Quälendste der zurückliegenden Wochen und Monate: das unsäglich Enge, Kleingeistige, Rechthaberische und Eitle.

Da mag von Kanzeln und Tribünen noch so lautstark an Gemeinsinn appelliert werden. In der Stunde der Wahrheit zerfällt diese Gesellschaft mit samt ihren Institutionen und Organisationen in kleinste Einheiten, die mit Kralle und Zahn ihre Vorteile gegenüber anderen zu wahren und zu mehren suchen: Jeder kämpft für sich Dabei fordern alle ganz selbstverständlich nur, was ihnen zusteht. Alle kämpfen für die gerechte Sache, oder besser noch Gerechtigkeit als solche. Nimm was Dir zusteht und wenn es Dir nicht zusteht, nimm es trotzdem. So zu denken und zu handeln entspricht der generationenlangen Konditionierung der jetzt Aktiven. Suche Deinen Vorteil, mehre Dein Individualwohl! Das Ganze wird schon für sich selber sorgen. Doch so eingängig dieser Satz vielen erscheinen mag – er ist nicht nur falsch, er ist auch zerstörerisch.

Das Gemeinwohl ist nämlich nicht nur die Summe allen Individualwohls. Es ist etwas qualitativ anderes und ungleich Größeres. Das Gemeinwohl muss gewollt sein, von jedem einzelnen und dem Gemeinwesen als Ganzes. Erlischt dieses Wollen, hört das Gemeinwesen auf zu sein. Zwar gibt es noch die historischen Wegmarken, in denen Gemeinsinn hell auflodert. Die deutsche Wiedervereinigung war eine solche Marke und auch die Bereitschaft, binnen eines Jahres fast eine Million Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Aber die lodernden Feuer werden schnell zu Asche. Die Gesellschaft zerfällt wieder in ihre antagonistischen Gruppen und Grüppchen.

Dieser Zerfall könnte weiter vorangeschritten sein als viele meinen. Wofür stehen wir denn noch gemeinsam – in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, unserer Gemeinde, von Deutschland, Europa und der Welt ganz zu schweigen? Stehen wir für eine digitale Zukunft? Das wäre doch wohl allzu ärmlich.Ohne Gemeinsinn keine Zukunft Wofür stehen wir aber dann, alle gemeinsam? In einer von Partikularinteressen zersplitterten Gesellschaft fällt die Antwort schwer. Menschenrechte? Demokratie? Welche Opfer sind wir bereit, für sie zu erbringen? Sehr eindrucksvoll ist der Einsatz nicht. Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Trotz allen politischen Haders - ohne Gemeinsinn geht es nicht.