Erzählungen

Gedanken im Dezember

Gedanken im Dezember

Trotz aller Dissonanzen besteht nicht nur unter den politischen Parteien sondern auch zwischen diesen und der Bevölkerung insgesamt ein bemerkenswerter Gleichklang. Alle sind sich einig: Es muss sich etwas ändern. Eine neue Erzählung muss her, eine, die den Menschen wieder ein lohnendes Ziel gibt und sie beflügelt. Denn die bisherige Erzählung hat sich erschöpft. Sie vermag nichts und niemanden mehr zu entflammen.

Was aber ist die bisherige Erzählung? Sie ist denkbar schlicht. Seit Beginn des industriellen Zeitalters heißt es: Konsumiere und Du bist glücklich durch die fortwährende Mehrung materiellen Wohlstands zu fortwährender Mehrung individuellen Glücks. Konsumiere und Du bist glücklich! Soll diese Erzählung wirklich beendet werden?

Offenbar nicht. Trotz aller Rufe nach dem beflügelnden Neuen wird nämlich eifrig an den alten Fäden weitergesponnen. Politik und Gesellschaft postulieren, was sie schon seit Generationen postulieren. Auch wenn zumindest in den wirtschaftlich entwickelten Ländern diese Erzählung immer weniger in ihren Bann schlägt, wird sie unverdrossen weiter erzählt: Glück durch Konsum.

Doch lohnt es sich dafür zu leben? Ist es ein Lebensziel, eine immer größere Wohnung, ein immer schnelleres Auto und einen immer glänzenderen Weihnachtsbaum zu haben? Manche mögen das bejahen. Aber in einem Land wie Deutschland erklärt die Mehrheit: Wir wollen neue Ziele Eigentlich haben wir genug. Wir wollen neue Ziele.

Wie aber soll die neue Erzählung gehen? Zuvörderst muss sie ehrlicher sein als die bisherige. Je länger, je mehr wird nämlich deutlich, dass das Versprechen „Glück durch Konsum“ unter den gegebenen Bedingungen nicht zu halten ist. Zum einen sind die tradierten Formen der Wohlstandsmehrung an Grenzen gestoßen. Besonders global ist der Wohlstand einer Minderheit zur unerträglichen Bürde für die Mehrheit der Menschen, für Natur und Umwelt geworden. Und zum anderen spüren selbst die derzeit Privilegierten, dass die Beziehung zwischen Wohlstand und Glück eher flüchtig ist.

Soll die neue Erzählung dauerhaft mitreißen, wird sie Horizonte weiten müssen. Die bisherige Erzählung ist eine Erzählung von Gewinnern für Gewinner, zu denen in den entwickelten Ländern zwar die meisten, in allen anderen Ländern jedoch nur kleine Minderheiten gehören. Das ist zu wenig. Eine Erzählung, die an nationalen Grenzen Die neue Erzählung muss alle einschließen endet und nur hinter hohen Mauern Gültigkeit hat, ist im 21.Jahrhundert ein Anachronismus und damit unglaubwürdig. Die neue Erzählung muss raumgreifend sein und alle einschließen.

Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sie nicht länger menschliches Glück weitgehend mit materiellem Wohlstand verknüpft. Denn der ist in einer endlichen Welt endlich. Vielmehr müssen neue Quellen von Glück und Zufriedenheit erschlossen werden, Glücksquellen jenseits von Brot und Spielen Quellen jenseits von Brot und Spielen. Den Völkern der entwickelten Länder dürfte dies besonders schwer fallen, haben sie doch seit vielen Generationen hierin keine Übung mehr. Aber ohne solche neuen Quellen haben auch neue Erzählungen keine Chance. Dann wird es weitergehen in dem ermüdenden und letztlich frustrierenden Trott, durch materielle Güter Glück schaffen zu wollen, dann wird der lauter werdende Ruf nach einer neuen Erzählung ungehört verhallen.

Bildung, Bildung, Bildung

Gedanken im November

Gedanken im November

Menschen reden vorzugsweise von dem, was sie nicht haben: Kranke von der Gesundheit, Arme vom Geld, Regengeplagte vom Sonnenschein. Und wovon wird hierzulande geredet? Folgt man beispielsweise den aktuellen Parteiprogrammen, scheint es kein wichtigeres Thema zu geben als Bildung. Sie sei unsere Zukunft, unser Schicksal. Und folglich soll unentwegt gebildet werden, vom Säuglings- bis zum Greisenalter. Steht es wirklich so schlecht um die Bildung?

Nicht wenn es darum geht, die Menschen zu wirtschaftlich produktiven Gliedern der Gesellschaft zu qualifizieren. Da macht niemand den Deutschen so schnell etwas vor. Bildung ist heute Qualifikation zum Broterwerb Diese können zumeist nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sondern sind auch sonst leistungsstark genug, um in der ersten Liga der wirtschaftlich entwickelten Länder mitspielen und einen materiellen Lebensstandard genießen zu können, der im historischen Vergleich keine und im internationalen Vergleich nur wenige Parallelen hat. Blinder Alarm also?

Nicht, wenn es bei Bildung um mehr gehen soll als die Qualifikation zum Broterwerb. Nicht, wenn sie das Individuum zu voller Entfaltung seiner Anlagen befähigen und erst recht nicht, wenn sie eine friedliche, tolerante, humane und nachhaltig wirtschaftende Gesellschaft ermöglichen soll. Das aber ist nach den Worten des amerikanischen Autors Robert Frost ihr eigentlicher Kern: die Befähigung, „fast alles anhören zu können, ohne die Fassung oder das Selbstvertrauen zu verlieren“.

Wird Bildung auch so verstanden und vielleicht noch ergänzt um Fairness, Mitmenschlichkeit, Anstand und Gemeinsinn, dann steht es in der Tat nicht gut um sie. Bildung als Befähigung zu Fairness, Mitmenschlichkeit und Anstand häufig Fehlanzeige Dann säßen nicht in hohen und höchsten Positionen viel zu viele Männer und Frauen, die nur darauf aus sind, ihre Mitbürger in die Irre zu führen und gnadenlos zu übervorteilen. Dann wären die sozialen Netzwerke – in den Worten des britischen Historikers Timothy Garton Ash - nicht zur „größten Kloake der Menschheitsgeschichte“ verkommen, triefend vor Hass und Häme. Dann müsste nicht ständig an mehr Gerechtigkeitssinn, solidarisches Verhalten oder ganz generell an größere Rücksichtnahme appelliert werden. Das alles verstünde sich in einer wirklich gebildeten Gesellschaft von selbst.

Doch die Gesellschaften von Ländern wie Deutschland sind nicht wirklich gebildet. Vielmehr sind sie mehr oder minder lockere Zusammenschlüsse von Erwerbsqualifi-zierten. Das hat sie gemessen an ihren BIP-Zahlen weit gebracht. Ihr gesellschaftliches Gefüge ist jedoch darüber morsch geworden. Eine größere Erschütterung - und es droht zusammenzubrechen.

Wer oder was ist hierfür ursächlich? Bildung beginnt im Elternhaus. Aber immer mehr Elternhäuser sind selbst nicht mehr bildungsfähig und immer weniger Großeltern vermögen, die Defizite auszugleichen. Das einmal Versäumte lässt sich in den Schulen nur noch bedingt nachholen, zumal diese ja in erster Linie „Humankapital“ in des Begriffes engster Bedeutung bilden sollen.

Bleiben Kirchen, Vereine, Zeitungsredaktionen, Medienanstalten, Filmemacher und andere mehr. Eltern, Kirchen, Vereine, Medien sind gefragt Oft sind sich diese ihres gesellschaftlich unverzichtbaren Bildungsauftrags aber gar nicht bewusst und nicht selten torpedieren sie sogar die Bemühungen anderer. Wenn ein Wort wie „Rüpelrepublik“ die Runde macht, darf wohl gefragt werden, woher diese Rüpel kommen.

Nach mehr Bildung zu rufen ist wohlfeil. Zu erklären, was das sein soll, ist ungleich anspruchsvoller. Hieran sollten alle die bildungsbeflissenen Politiker denken. Denn mit der Bildung, die sie zumeist im Munde führen, lässt sich vielleicht das Bruttosozialprodukt erhöhen. Aber ein vitales Gemeinwesen lässt sich auf ihr weder gründen noch aufrechterhalten.

Sphinx

Gedanken im Oktober

Gedanken im Oktober

„Wir haben verstanden“ erklärten demütig die in der Bundestagswahl vom Wahlvolk gebeutelten Parteien. Wir haben verstanden. Das zu sagen war kühn, wahrscheinlich sogar tollkühn. Denn lässt sich die Sphinx „Wahlvolk“ überhaupt verstehen? Oder spricht sie nicht vielmehr in dunklen, oft unlösbaren Rätseln?

Da echauffiert sich ein wackerer Dörfler über die Verödung seiner ländlichen Gemeinde. Kein Arzt und kein Apotheker, kein Bäcker und kein Metzger mehr. Leerstehende Häuser und Wohnungen. Ihre Bewohner sind in Ballungsgebiete gezogen. Mehr Wohnungen bauen Dort fordern sie lautstark „bezahlbaren Wohnraum“. Es muss mehr gebaut werden.

Das aber soll nicht zu einer zusätzlichen Versiegelung von Flächen führen. Keine weitere Flächenzersiedelung Schützt die Natur! Schützt die Vielfalt der Arten! Doch wie, wenn zugleich Straßen und Autobahnen, Flughäfen und Schienennetze immer weiter ausgebaut werden. Das nämlich muss sein. Das Wahlvolk will seinen Mobilitätsdrang ungehemmt ausleben können.

Und dann die Renten. Die müssen sicher sein und verlässlich steigen. Keine Armut im Alter! Wo künftig die Arbeitskräfte herkommen sollen, die das ermöglichen, beschäftigt die meisten allenfalls beiläufig. Für sie rangiert die Karriere statt Kinder Erfüllung von Kinderwünschen deutlich hinter Karriere und hohem materiellen Lebensstandard und zwar jetzt.

Dass hierdurch entstehende Bevölkerungslücken nicht mit Zuwanderern zu schließen sind, versteht sich für sie von selbst. Keine Zuwanderer Da heißt es keck: „Wir machen unsere Deutschen selbst.“ Und wie? Wie immer. Mit Geld. Mehr Geld für Kinder, Eltern, Kitas, Schulen. Bei einem Schuldenberg von weit über zwei Billionen Euro kommt es auf ein paar hundert Milliarden offenbar nicht mehr an. Wen schert es, wenn eben diese Schulden just jenen auf die Füße fallen, für die sie heute gemacht werden.

Vor allem aber sichere Grenzen und streng reglementierte Zugänge. Die sind so unverzichtbar wie die Segnungen der Globalisierung: für alle und jeden in diesem Land spottbillige Güter und Dienste. Spottbillige Güter und Dienste Was zählt sind die Rosinen im Globalisierungskuchen. Für die Ausbeutung, die Umweltschäden oder die Massenmigration haben viele kein Auge. Das soll Frontex richten.

Was in den zurückliegenden Wochen an geballter Naivität, an Widersprüchen und Ungereimtheiten zu besichtigen war, geht über bislang Gewohntes hinaus. Widersprüche und Ungereimtheiten „Es ist Zeit“ plakatierte eine der Parteien. In der Tat. Es ist Zeit, dass die Politiker dem Wahlvolk sagen: Wir verstehen Dich nicht länger. Dein Begehren ergibt immer öfter keinen Sinn.

Hinzufügen müssten sie allerdings: Wir Politiker tragen hieran ein gerütteltes Maß an Mitverantwortung. Denn wir haben bei Dir viel zu lange den Glauben genährt, wir könnten die Gesetze der Logik außer Kraft setzen. Es ist Zeit, hier Klarheit zu schaffen. Dazu aufgerufen sind neben Wahlvolk und Politikern Zivilgesellschaft und Medien. Sie alle haben sich verheddert in zunehmend unerfüllbaren Wünschen und Forderungen. Mehr Nüchternheit und Gemeinsinn Wenn wieder mehr Nüchternheit und Gemeinsinn im Denken und Handeln der Gesellschaft Platz griffen, würde dies nicht nur die anstehenden Koalitionsverhandlungen erleichtern, sondern dieses Gemeinwesen auch auf Dauer regierbar halten.

Marionetten

Gedanken im September

Gedanken im September

Nach den Berechnungen des Global Footprint Network übersteigt seit dem 2. August die Nachfrage der Menschen nach natürlichen Ressourcen die Kapazität der Erde, diese Ressourcen ohne Raubbau für den Rest des Jahres bereitzustellen. Dieser Raubbau schlägt sich nieder in einem ständigen globalen Temperaturanstieg, einer zügigen Schrumpfung der Waldflächen, einem dramatischen Rückgang der Artenvielfalt, Überfischung und anderem mehr. Die Erde signalisiert tausendfach: Ich bin erschöpft.

Anfang der 1970er Jahre lag dieser „Welterschöpfungstag“ noch am Jahresende, das heißt, die Erde vermochte die Aktivitäten der Menschen gerade noch zu verkraften. Seitdem rückt das Datum immer weiter nach vorn. "Welterschöpfungstag" immer früher Um 2050 wird die Menschheit dann voraussichtlich das neue Jahr mit einer bereits erschöpften Erde beginnen, soll heißen, was diese zu bieten hat, wurde im vorangegangenen Jahr schon verbraucht. Anders gewendet: Um wie gewohnt zu leben und zu wirtschaften, benötigt die Menschheit dann zwei Erden.

Ganz gleichgültig ist ihr diese Entwicklung offenbar nicht. Immerhin wurde – wie in früheren Jahren – auch diesmal auf den „Welterschöpfungstag“ hingewiesen. Aber wie! In den Hauptfernsehnachrichten hieß es dazu: Ab heute sind die natürlichen Ressourcen für das laufende Jahr erschöpft. Und nun die Lottozahlen. Was zunächst wie eine bitterböse Satire erscheint, entspricht dem Empfinden der überwältigenden Mehrheit und ist gelebte Wirklichkeit, getreu der britischen Maxime: Mag die Welt auch untergehen, wir spielen weiter Cricket.

Das ist wohl auch der Geist, der derzeit fast alle politischen Parteien lenkt und beflügelt. Mehr, mehr, mehr. Mehr, mehr, mehr Mehr Geld für Kitas, Schulen und Universitäten. Mehr gut bezahlte Arbeitsplätze. Mehr Rente. Mehr Mittel für den Eigenheimbau, die Infrastruktur, die Polizei und Bundeswehr. Dass alle diese Projekte schon längst keine nachhaltige Fundierung mehr haben, sondern zunehmend auf Ausbeutung und Raubbau gründen, schert die wenigsten. Sie lassen sich nur allzu bereitwillig einlullen von Versprechen, deren Erfüllung entweder unmöglich ist oder die Existenzgrundlagen von Pflanzen, Tieren und Menschen zerstören.

Doch über dieses Dilemma wird nicht gesprochen. Schon gar nicht in einem Wahlkampf. Hierin besteht parteiübergreifender Konsens. Dass die etablierten Lebensformen fragwürdig oder richtiger: unhaltbar geworden sind, ist das unbedingte Tabu dieser Gesellschaft, an das zu rühren politisch selbstmörderisch sein kann. Folglich beschränken sich alle politischen Kräfte auf Strategien, von denen sie glauben, sie seien „politisch durchsetzbar“. Ob sie mit ihnen Probleme lösen können oder diese nicht sogar noch verschlimmern, wird allenfalls hinter vorgehaltener Hand gefragt.

Würde in diesem Land ehrliche und ernsthafte Politik betrieben, wäre ihre vordringlichste Aufgabenstellung: Wie führen wir unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten in die Grenzen zurück, die uns die Erde bei unserem jeweiligen Wissens- und Könnensstand setzt. Denn dass wir uns seit geraumer Zeit außerhalb dieser Grenzen befinden, ist schlechterdings nicht mehr zu übersehen. Debatte um Rückkehr innerhalb der ökologischen Grenzen ist überlebenswichtig Zwar ist es schwierig, hierüber in dieser Gesellschaft zu debattieren. Aber die Debatte muss kommen. Sie ist buchstäblich überlebenswichtig. Politiker, die sie zu vermeiden suchen, sind bloße Marionetten eines zerstörerischen Zeitgeistes.

Flohwalzer

Gedanken im August

Gedanken im August

Der Verkäufer im Handyladen ist offenbar ein erfahrener Mann. Unaufgefordert erklärt er seinem verdutzten Kunden, dass dieser für allenfalls ein Zehntel der Funktionen seines soeben erworbenen Smartphones Verwendung haben dürfte. Um alles, was darüber hinausgehe, solle er sich nicht kümmern. Das frustriere nur. Denn schließlich solle das Gerät ja für ihn und nicht er für das Gerät da sein.

Was zunächst wie eine dieser trivialen Episoden im anhaltenden Ringen des Menschen mit der Technik anmutet, erweist sich bei näherem Hinsehen als etwas sehr Grundsätzliches. IT-Technik - ein Thema Worüber wird in Büros und Fabrikhallen, in Universitätsmensen und Betriebskantinen seit vielen Jahren tagein, tagaus geredet und nicht selten geflucht? Diese unberechenbare und mitunter geradezu heimtückische IT-Technik, die urplötzlich große Datenmengen verschwinden lässt, sich beharrlich weigert, Unerwünschtes zu löschen, die aberwitzigsten Verknüpfungen herstellt und die einfachsten Operationen nicht auszuführen vermag.

Zwar liegen alledem zumeist Bedienungsfehler zugrunde. Diese zu vermeiden und gewandt mit moderner Technik umzugehen, erfordert viel Zeit und Übung. Für anderes bleibt da wenig Raum. Wer andere Prioritäten hat, muss sich damit abfinden, dass er es auf seinem Computer oder Smartphone nicht weiterbringt als das klavierspielende Kind, dessen Künste im Flohwalzer gipfeln.

Bis heute wird darüber gerätselt, warum diese gigantische digitale Revolution das Leben vieler Menschen zwar nachhaltig verändert, aber nur selten wirklich verbessert. Begrenzte Wirkungen Verglichen mit dem flächendeckenden Ausbau von Wasserzu- und -ableitungen, der Elektrizität oder den Verkehrswegen sind ihre Wirkungen bei aller Unüberschaubarkeit merkwürdig begrenzt. Deutlich messbare, wohlstandsmehrende Schübe hat sie jedenfalls bis heute nicht ausgelöst.

Hierfür werden zahlreiche Gründe genannt. Häufig unerwähnt bleibt dabei allerdings, dass moderne Technik mit Funktionen überfrachtet worden ist, für die die meisten keinen Bedarf haben, die sie aber belasten. Von Nutzlosem zu viel, von Notwendigem zu wenig. Dieser Trend vieler neuer Entwicklungen gilt auch für die Technik und für sie sogar besonders. Hybris allerorten, vom simplen Zimmerthermometer, das nicht ohne Gebrauchsanweisung auskommt bis hin zum hoch gezüchteten Küchenherd, in dessen Geheimnisse eine vierzigseitige Schrift einweiht.

Wie sagte der Verkäufer im Handyladen? Das Gerät solle für den Nutzer und nicht der Nutzer für das Gerät da sein. Wie treffend. Doch von dieser Maxime haben sich große Teile der Technik weit entfernt. Wer steuert wen? Immer häufiger kreisen sie nicht nur um sich selbst, sondern haben sich auch dazu aufgeschwungen, das Handeln der Menschen zu steuern. Diese bleiben mit ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen zurück - auch das Ausdruck einer fehlgeleiteten Kultur.

Gleicher Maßstab

Gedanken im Juli

Gedanken im Juli

In einem seiner letzten Interviews bemerkte der einstige niederländische Prinzgemahl Claus von Amsberg, dass immer wieder gefragt werde, wie lange demokratisch verfasste Gemeinwesen noch bereit sein würden, Monarchen zu ertragen. Er hielt die Frage für berechtigt, fragte sich jedoch seinerseits, wie lange sich noch Menschen finden würden, die bereit seien, Monarchen zu sein.

Dies dürfte keineswegs nur Koketterie gewesen sein. Denn nüchtern betrachtet ist in unseren hochgradig individualistischen Gesellschaften, in denen jeder Religionsstifter, Gesetzgeber, Richter und höchste moralische Instanz zu sein vermeint, Ausübung von Macht wenig erbaulich die Ausübung von Macht - und sei sie auch nur repräsentativ - wenig erbaulich.

Das beginnt schon im Kleinsten. Da soll in einem hübschen bayerischen Ort der Dorfplatz neu gestaltet werden. Nach langem Hin und Her wird einer der Pläne verwirklicht. Ein unbefangener Außenstehender würde wahrscheinlich sagen, das Projekt sei recht gut gelungen. Jedenfalls sei der Platz jetzt viel ansprechender als zuvor.
Nicht so die Ortsansässigen. Für viele ist das Ganze ein Missgriff. „Scheußlich“ ist noch einer der harmloseren Verdikte. Der Bürgermeister samt politischer Mehrheit seien ganz einfach Versager. Hätte man nur auf irgendjemand anderen gehört.

Nun steht außer Frage, dass es in der Politik viele Versäumnisse und Fehler gibt. Aber deren Zahl dürfte nicht größer sein als in anderen Bereichen menschlichen Miteinanders. Der wesentliche Unterschied ist, Oft maßlose Kritik an der Politik dass in der Politik jede Schwäche mit einer Härte und Häme gebrandmarkt wird, die in anderen Bereichen als maßlos und unanständig gelten würde.

Wer ist bereit, das auf sich zu nehmen? Wie die Erfahrung zeigt jedenfalls abnehmend Männer und Frauen, die auch anderweitig erfolgreich sein können. Warum sich zwingen lassen, selbst Privatestes vor der Öffentlichkeit auszubreiten, sogar für Dinge, die die Öffentlichkeit gar nicht berühren, rechenschaftspflichtig zu sein und sich für Geleistetes mitunter auch noch unflätig beschimpfen zu lassen? Allzu oft ist zu hören, das tue ich mir nicht an, das habe ich nicht nötig.

Die Politik ist zweifellos mängelbehaftet. Die Kritik an ihr allerdings auch. Der Souverän, das Volk, einschließlich der Medien sollte einmal selbstkritisch prüfen, ob er dieselben Maßstäbe, die er an die Politik anlegt, auch an sich selbst angelegt sehen möchte.

Die Politiker, so heißt es oft, müssten ihr Verhältnis zur Bevölkerung überdenken. Wohl wahr. Verhältnis überdenken Umgekehrt gilt jedoch das Gleiche. Sonst könnte es geschehen, dass sich früher oder später nur noch Hohlköpfe und krankhaft Geltungssüchtige für politische Ämter zur Verfügung stellen. Soweit sollte es nicht kommen. Aber Entwicklungen in diese Richtung sind unübersehbar.

Wahnsinnig toll

Gedanken im Juni

Gedanken im Juni

Die Sprache gilt vielen als die höchste kulturelle Leistung des Menschen. Umso aufschlussreicher ist daher, wie eine Gesellschaft mit ihr umgeht.

Dabei steht außer Frage, dass sie sich ständig verändert, durch andere Sprachen bereichert wird und umgekehrt andere bereichert. Auch ist sie immer wieder mehr oder minder modischen Trends unterworfen, die sie einmal modern und dann wieder altbacken erscheinen lassen. Eine Sprache lebt.

Auf das Deutsche gewendet scheint sich dieses derzeit in einer besonders lebhaften Phase zu befinden.Maßlose Übertreibungen Nicht nur, dass es seit geraumer Zeit Anglizismen wie ein Schwamm aufsaugt und seine Grammatik auf das Rudimentärste beschränkt. Zugleich schwelgt es in Superlativen und maßlosen Übertreibungen.

Da soll eine junge Frau vor laufender Kamera ihre Eindrücke von einem Dorffest wiedergeben und kommt über ein „wahnsinnig toll“, das aber dreimal binnen einer Minute nicht hinaus. Da flattert eine Einladung zu einer kleinen Familienfeier ins Haus, in der der Absender dem Eingeladenen versichert, dass man sich über sein Kommen „irrsinnig freuen“ würde. Und so geht es weiter.

Steuert jemand in einem Gespräch ein paar Belanglosigkeiten bei, wird ihm sogleich bekundet, dass diese höchst interessant seien. Dem Prädikat „hervorragend“, „super“ oder „genial“ ist kaum noch zu entkommen. Doch umgekehrt ist es ebenso leicht, in die Abgründe von „schrecklich“, „entsetzlich", „Desaster“ oder „Chaos“ zu stürzen.
Engbrüstig und atemlos Der Pfad zwischen exzessivem Jubel und nicht minder exzessiver Verdammung ist schmal geworden. Das Deutsche steht im Begriff, engbrüstig und atemlos zu werden. Es kommt daher wie ein Musikstück, das nur fortissimo und pianissimo kennt, sonst nichts. Das ist auf Dauer langweilig und ermüdend.

Denn eine Sprache lebt nicht zuletzt auch von ihren Nuancierungen und je feiner diese sind, desto lebendiger ist sie. Hieran gemessen ist die heutige Alltagssprache ungemein simpel, um nicht zu sagen grobschlächtig. Spiegelbild unserer Kultur Ihr nicht selten exaltiert hysterischer Gebrauch soll diese Dürftigkeit vermutlich überdecken. Aber vielleicht ist sie ja gerade darum ein getreues Spiegelbild unserer Kultur.

Brot und Spiele

Gedanken im Mai von Meinhard Miegel

Gedanken im Mai von Meinhard Miegel

Das Militär, so heißt es mitunter, plane nicht selten Feldzüge, die in der Vergangenheit stattgefunden haben. Für kommende Herausforderungen fehlten ihm Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen.

Überholte Schlachten Über Bildungspolitiker ließe sich Ähnliches sagen. Auch sie schlagen oft Schlachten, die überholt sind. So gilt ihr vorrangiges Interesse noch immer der Steigerung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit nachwachsender Generationen, ganz als ginge es wie vor fünfzig oder hundert Jahren weiterhin vor allem um die Schaffung und Sicherung materieller Existenzgrundlagen.

Doch dieses Kapitel ist zumindest in den wirtschaftlich hochentwickelten Ländern abgeschlossen. Diese sind eingetreten in eine historische Phase, in der – zunehmend am Menschen vorbei – die Versorgung mit materiellen Gütern und technischer Fortschritt ihren Weg gehen. Die Menschen bleiben zurück und verfolgen teils ungläubig, teils fassungslos, was um sie herum vorgeht.

Erwerbsarbeit als Lebenszweck hat sich für viele erübrigt. Sie werden nicht mehr gebraucht, um Brot zu backen, Häuser zu bauen, Steuererklärungen auszufüllen oder medizinische Diagnosen zu erstellen. Massenhaft obsolete Arbeitsplätze Das alles wird künftig von wenigen im Verbund mit Bergen angehäuften Wissens und Kapital erledigt. Arbeitsplätze werden auf diese Weise massenhaft obsolet. Die Hoffnung, an ihre Stelle träten immer wieder neue, ist trügerisch. In den entwickelten Ländern hat sich jedenfalls die pro Kopf erbrachte Menge an Erwerbsarbeit in den zurückliegenden hundert Jahren mehr als halbiert.

Was aber heißt das für die Zukunft? Dass neue Instrumente für die Verteilung des erwersarbeitsfrei Erwirtschafteten entwickelt werden müssen, ist mittlerweile weithin erkannt. Nicht wirklich erkannt ist hingegen, dass es unter diesen Bedingungen wenig sinnvoll ist, die Kinder von heute auf eine Welt vorzubereiten, die wie jene der Vergangenheit um Erwerbsarbeit zentriert ist. Soll ihr Leben nicht nur aus Brot und Spielen bestehen, müssen sie vor allem eines lernen: ihrem Leben aus eigenem Antrieb einen Sinn zu geben, es nach Kräften selbst zu gestalten und sich selbst zu finden.

Nicht jedem wird das gelingen. Ob jedoch die oft einseitige Förderung von mathematischen, technischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten im schulischen Fächerkanon hilfreich ist, künftigen Anforderungen zu genügen, muss bezweifelt werden. Freude am Leben wecken Jetzt dürfte es vielmehr darauf ankommen, die schöpferischen Potenziale und künstlerischen Begabungen von Kindern und Heranwachsenden zu wecken, ihre Gemeinschaftsfähigkeit und nicht zuletzt ihre Freude am Leben.

Die Kinder von heute müssen mit dem, was ihnen jetzt vermittelt wird, nicht nur die nächsten ein oder zwei Jahrzehnte, sondern auch noch die vierziger, fünfziger und sechziger Jahre meistern. Bemühen wir also unsere Vorstellungskraft und unser Einfühlungsvermögen, um diese Zukunft lebendig werden zu lassen. Vielleicht lässt sich dann das eine oder andere derzeitige Bildungskonzept doch noch verbessern.

 

Gefühlte Wirklichkeiten

Gedanken im April von Meinhard Miegel

Gedanken im April von Meinhard Miegel

Es ist stets das Gleiche. Werden Menschen in Ländern wie Deutschland nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen, ihrer persönlichen Sicherheit oder ganz allgemein nach ihrer Lebenszufriedenheit befragt, sind ihre Antworten oft in Dur gestimmt. Geht es hingegen um die Lage ihrer Mitbürger oder gar um das Gemeinwesen insgesamt, überwiegen die Molltöne. Der Grundakkord ist: Mir selbst geht es zum Glück recht gut. Für andere gilt dies leider nicht.

Über diese Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdeinschätzung ist viel nachgedacht und geforscht worden. Die selbst erfahrene Wirklichkeit erscheint heller als die vermittelte Wirklichkeit Kleiner geworden ist sie dadurch nicht. Was immer im eigenen Erfahrungsbereich liegt, erscheint zumeist heller und freundlicher als die durch Dritte, namentlich Medien vermittelte Wirklichkeit. Diese ist von einem Grauschleier überzogen. Verkehrschaos, Wohnungsnot, Scharen von Armen. Selbstverständlich ist so eine Weltsicht nicht.

Eine Eintrübung erfährt sie bereits durch die Auswahl der Nachrichten, mit denen Wirklichkeit transportiert werden soll. Deren Breite und Farbigkeit spiegeln sie noch nicht einmal andeutungsweise wider. In der Regel sind sie auf das Spektakuläre fokussiert, auf den grünen Esel mit den roten Beinen. Das das Leben bestimmende Alltägliche, die kleinen Freuden und Sorgen – für sie ist im Kosmos vermittelter Wirklichkeit nur selten Platz.

Hinzu kommt die Lust an virtuell verbreitetem Grauen und Schrecken, an Tragödien und Katastrophen. Die in den Medien tagtäglich zum Schein Ermordeten legen beredtes Zeugnis hiervon ab. Und ist der Letzte für den Moment in sein Kino- oder Fernsehgrab gelegt worden, stehen sogleich die Heerscharen derer auf, die an irgendetwas gescheitert oder zumindest zu kurz gekommen sind: bei ihren Eltern, in der Schule, dem Betrieb, die Opfer von Konkurrenz und Globalisierung. Nicht selten entsteht der Eindruck, als bestehe die Gesellschaft aus einer dünnen Schicht – unverdient! – Glücklicher und der Masse zu kurz Gekommener.

Dies als Lüge zu bezeichnen wird dem eigentlichen Sachverhalt nicht gerecht. Produzenten und Konsumenten von Nachrichten sind geradezu eine Symbiose eingegangen Denn Lügen sind gar nicht so häufig und in halbwegs transparenten Gesellschaften zumeist auch leicht durchschaubar. Viel wirkmächtiger ist die fortwährende Eindunkelung vermittelter Wirklichkeit, an der Produzenten und Konsumenten teilhaben. Mehr noch: Beide Seiten sind hier geradezu eine Symbiose eingegangen. Die Konsumenten vermittelter Wirklichkeit meinen, diese nicht ohne Würzung verdauen zu können und die Produzenten erhalten für diese Würzung klingenden Lohn.

Auf diese Weise entsteht eine Scheinwirklichkeit, die sich aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Nichtwahrheiten, aus Fakten, alternativen Fakten und Fiktionen zusammensetzt. Immer weniger ist was es scheint, immer weniger scheint was es ist. Sich in einer solchen Welt zurecht zu finden ist schwer und mitunter unmöglich. Der einzelne ist auf sich selbst und die von ihm selbst erfahrene Wirklichkeit zurückgeworfen. Und die ist für viele lebenswert und licht. Die vermittelte Wirklichkeit hingegen erscheint ihm zunehmend als undurchdringliches Dickicht voller undeutbarer Bilder und Töne, eine Kakophonie von Empfindungen.

Auch das gehört zur Kultur einer Gesellschaft. Alle müssen sich wieder einem ehrlicheren Wirklichkeitsverständnis zuwenden Entspricht es ihrem Selbstverständnis, wenn sie allabendlich durch das virtuelle Abschlachten von Mitmenschen Entspannung sucht, statt durch Gespräche, Musik und die vielen Dinge, die ein Leben lebenswert und heiter machen? Soll die zunehmend destruktive Kluft zwischen selbst erfahrener und vermittelter Wirklichkeit überwunden werden, müssen sich alle, Produzenten und Konsumenten dieser Vermittlung, wieder einem ehrlicheren Wirklichkeitsverständnis zuwenden – in Dur und Moll, in hell und dunkel. Denn vermittelte Wirklichkeit kann schlussendlich keine andere sein als die Summe der vielen unmittelbar erfahrenen Wirklichkeiten.

Die westliche Ordnung ist unter Beschuss