Podcast von Meinhard Miegel

Im Rahmen der oekom podcast-Reihe "Die guten Seiten der Zukunft" liest Meinhard Miegel aus seinem letzten Buch "Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter." Er legt die Segnungen, aber auch die Mängel unseres kapitalistischen Systems dar, die mit den erprobten Methoden nicht mehr zu beheben sind. Die Versprechen fortwährender materieller Wohlstands- und Glücksmehrung sind nicht mehr einzulösen. Aber was kommt dann? Wie kann es weiter gehen? Meinhard Miegel zeigt in seinem Podcast einige Wege auf.

Göttinger Weihnachtsmann liest Meinhard Miegel

1. bis 24. Dezember 2020

1. bis 24. Dezember 2020

Das Deutsche Theater Göttingen hat einen online Adventskalender entworfen. Vom 1. bis zum 24. Dezember präsentiert das Ensemble persönliche Anregungen zum Denken und Schenken. Hinter dem ersten Türchen liest Volker Muthmann aus Meinhard Miegels neuem Buch "Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter - Verantwortung in Krisenzeiten". Sein Thema: von der Angst der Menschen, materielle Wohlstandseinbußen zu erleiden. Seine Botschaft: Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Teilens.

Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter

Wie bereits angekündigt ist Meinhard Miegels Buch „Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter. Verantwortung in Krisenzeiten“ am 6. Oktober 2020 erschienen und nunmehr im Buchhandel erhältlich.

In diesem Buch wird das aktuelle Weltgeschehen von den ökologischen Krisen bis zu den Folgen der Corona-Pandemie reflektiert. Miegel wirbt für Nachdenken, Innehalten und Gemeinsinn und stellt sich gegen Hybris, Egoismus und Gier. Ihm geht es um nicht weniger als eine Erneuerung unserer Kultur.

In einem Interview zum Buch äußert sich Meinhard Miegel auch zu der Frage, wie es nach der Corona-Pandemie weitergehen wird.

MEINHARD MIEGEL
DAS SYSTEM IST AM ENDE. DAS LEBEN GEHT WEITER
Verantwortung in Krisenzeiten
160 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-96238-208-7
18 Euro, 18,50 Euro [A]
Erhältlich auch als E-Book

In eigener Sache

Juli 2020

Juli 2020

Seit Anfang 2017 erschien jeden Monat an dieser Stelle ein „Gedanke“ aus meiner Feder. Diese Gedanken werden am 6. Oktober 2020, erweitert um zwei begleitende Essays, als Buch im Oekom Verlag veröffentlicht werden. Sein Titel: „Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter – Verantwortung in Krisenzeiten“. Damit soll diese Folge enden.

Künftig beschränke ich mich darauf, mich in unregelmäßigen Abständen zu Wort zu melden. Allen, die mich über die Jahre mit regem Interesse begleitet haben, danke ich an dieser Stelle herzlich. Über die anhaltenden Aktivitäten der Stiftung kulturelle Erneuerung werden Sie wie gewohnt unterrichtet.

Mit allen guten Wünschen
Meinhard Miegel

Jetzt im Buchhandel

Wie schützt der Mensch sich vor sich selbst? Welche  Strategien haben hierfür die Menschen in früheren Zeiten und anderen Teilen der Welt entwickelt? Welche Rolle spielen dabei Philosophie und Religion? Und können diese Strategien für den erforderlichen kulturellen Wandel in Deutschland und Europa hilfreich sein? Das war nicht nur  das Thema der Konferenz von 2018 sondern auch der beiden Studien von Michael von Brück und Volker Gerhardt, die diese im Auftrag der Stiftung kulturelle Erneuerung erstellt haben. Dabei beschäftigt sich der Religionswissenschaftler von Brück mit der Frage, welche Strategien in Form von Heilsversprechen, Glaubenssätzen und Mythen beispielsweise für die buddhistischen Gesellschaften prägend waren und wie sie sich von westlichen Denkweisen unterscheiden. Der Philosoph Gerhardt untersucht  dagegen, welche Beiträge die abendländische Philosophie zu Fragen der Kultur und ihrer Entwicklung geleistet hat.  Beide legen dar, welche Erfahrungen aus ihren unterschiedlichen Analysen für den kulturellen Wandel gewonnen werden können und unterbreiten Vorschläge, wie die westliche Kultur erneuert und damit nachhaltiger werden kann.

Die Bücher erscheinen im Karl Alber Verlag und sind ab 15. Juli im Buchhandel erhältlich. Sie können auch gratis als PDF heruntergeladen werden.

 

 

Armutszeugnis

Gedanken im Juni

Gedanken im Juni

Alle Jahre wieder berichten die börsennotierten Unternehmen ihren Aktionären und der Öffentlichkeit, was sie im Vorjahr erwirtschaftet haben. Zugleich teilen sie mit, welche Vergütungen ihre Vorstände, Aufsichtsräte und Mitglieder sonstiger Kontrollorgane erhielten. Zumal bei den großen DAX-geführten Unternehmen sind die Summen ehrfurchtgebietend. Da kann die Tätigkeit eines Vorstandsvorsitzenden durchaus mit 12 oder auch 15 Millionen Euro im Jahr honoriert werden. Im Durchschnitt aller DAX-Unternehmen lag das Salär pro Vorstandsmitglied 2019 bei reichlich 3,5 Millionen Euro.

Ist das viel, wenig oder angemessen? Über diese Frage wird seit langem gestritten. Eine befriedigende Antwort steht bis heute aus. Einkommen von DAX-Vorständen überproportional gestiegen Fest steht nur, dass diese Bezüge gemessen an der allgemeinen Einkommensentwicklung in den zurückliegenden Jahrzehnten weit überproportional gestiegen sind. Das hat dazu geführt, dass ein DAX-Vorstand heute pro Woche netto den Gegenwert eines gehobenen Mittelklassewagens erhält und in 6 Monaten den Gegenwert einer Villa in bester Wohnlage. Noch einmal: Ist das viel, wenig oder angemessen?

Die Antwort mag dahingestellt bleiben. Denn bedeutsamer ist, dass mit solchen Einkommen Menschen – nicht nur in der Wirtschaft sondern auch in anderen Bereichen – aus der Gesellschaft herauskatapultiert werden. Mit der übrigen Bevölkerung haben sie nicht mehr viel gemein. Zwar ist unbestritten, dass von ihnen mitunter weit Überdurchschnittliches erwartet wird. Was rechtfertigt das 50- oder 100-fache Einkommen eines Normalbürgers? Das ändert jedoch nichts daran, dass sie ihr Wissen und Können mit hunderttausend anderen teilen, dass sie gelegentlich kluge und dann wieder dumme Entscheidungen treffen, dass sie geleitet werden von Kindheitsprägungen und guten aber auch schlechten Lebenserfahrungen, kurz: dass sie ganz normale Menschen, sprich fehlsame Wesen sind, die, ihrer Position entkleidet, kaum Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Was also rechtfertigt Einkommen, die das Fünfzig- oder auch Hundertfache des Normalbürgers betragen? Das hier nicht Leistung im landläufigen Sinn honoriert wird, liegt auf der Hand. Denn solche Leistungen kann kein Mensch erbringen. Vielmehr geht es darum, der Welt zu zeigen: Schaut her, die hier sind etwas ganz Besonderes. Sie stehen über uns, über jedem Politiker und fast jedem Künstler, Sportler oder Wissenschaftler. Sie sind eine eigene Art Mensch, wobei auch unter dieser Art Mensch die Statuskämpfe heftig sind. Wer bekommt 10 oder 15 Millionen Euro?

Und hier werden diese Saläre zum Trauerspiel. Jede menschliche Organisation vom Staat, über das Unternehmen bis zum Sportverband tut gut daran, herausragende Leistungen zu würdigen. Das kann auch durch die Ermöglichung eines Lebens auf hohem materiellen Niveau geschehen. Wertschätzung fast nur noch durch Geld Doch eine Gesellschaft, die herausragende Leistungen fast nur noch mittels Geld zu würdigen vermag, ist arm dran. Und ebenso arm dran sind die Männer und Frauen, die sich auf diese Art Würdigung einlassen. So gesehen sind die alljährlichen Unternehmensberichte mit den ehrfurchtheischenden Zahlen Armutszeugnisse. Im alten China waren die Menschen weiter. Sie erwiesen denen die größte Hochachtung, die klug, gebildet und menschenfreundlich waren. Materielles Vermögen spielte nur eine ganz untergeordnete Rolle. Und sie hatten Mittel und Wege, diese Hochachtung auszudrücken.

Dies dürfte einer der empfindlichsten Schwachpunkte moderner Gesellschaften sein, dass sie, abgesehen von abnehmend beeindruckenden Orden, inflationären Preisen und ehrenhalber verliehenen akademischen Titeln, Wertschätzung fast nur noch durch Geld zeigen können. Kulturelle Versteppung Das ist kulturelle Versteppung. Wie sagte kürzlich ein Gewerkschaftsfunktionär als Mitglieder seiner Organisation ob ihres großen Einsatzes öffentlich gelobt wurden: Davon können sie sich nichts kaufen. Sie wollen Geld sehen. Wie zeitgemäß und doch wie ärmlich!

Von Sinnen

Gedanken im Mai

Gedanken im Mai

Kaum mehren sich die Zeichen, dass der Höhepunkt der Coronapandemie für dieses Mal überschritten sein könnte und schon heißt es, eine neue noch größere Bedrohung zöge herauf: eine wirtschaftliche Rezession, die schlimmer sein werde als alles, was die heute Lebenden bislang erfahren haben. Gefahr eines dramatischen Wirtschaftseinbruchs Der Wirtschaftseinbruch habe dramatische Ausmaße erreicht. Selbst wenn jetzt alles richtig gemacht, sprich die Digitalisierung an allen Fronten zügig vorangetrieben werde, sei eine Rückkehr auf den bisherigen Wachstumspfad erst gegen Ende dieses Jahrzehnts zu erwarten. Zunächst werde die Wirtschaft aufgrund von Corona um 5 bis 10 Prozent einbrechen und die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellen lassen. Nur gigantische Finanzströme sollen da noch helfen. Allein Deutschland will 1,5 Billionen Euro mobilisieren, eine Summe, die – wenn überhaupt – nur in Jahrzehnten getilgt werden kann. In der EU ist gar die Rede von einer „ewigen Anleihe“, die nie zurückzuzahlen wäre. Das kann, so das Argument, keine Volkswirtschaft stemmen. Die Last wäre zu groß.

Diese Epidemie hat schon einiges offenbart: ein bemerkenswertes Maß an Einsatzbereitschaft und Selbstlosigkeit, an Opferwillen und Solidarität. Aber sie offenbart auch – je länger, je mehr – ein erschreckendes Maß an gesellschaftlicher Zerbrechlichkeit, Zukunftsblindheit und fehlendem Gestaltungswillen. Gebot der Stunde: Wirtschaft wieder hochfahren Vielen fällt nichts Besseres ein, als da weiterzumachen, wo vor wenigen Monaten der bisherige Lauf der Dinge ins Stocken geriet und die Wirtschaft, so als sei nichts gewesen, wieder „hochzufahren“. Dass Deutschland in diesem Jahr – trotz Krise – schon am 3. Mai seinen Erdüberlastungstag erreicht hatte und seitdem unsere natürlichen Lebensgrundlagen durch seinen exzessiven Ressourcenverbrauch , seinen Müll und seinen Schadstoffausstoß massiv beschädigt, interessiert offenbar nur eine Minderheit. Die Mehrheit möchte die Produktion wieder möglichst schnell auf den alten Wachstumspfad zwingen, die Mobilität weiter erhöhen, die Einkommen in gewohntem Umfang steigern…

Irgendwie scheinen große Teile der Gesellschaft ganz buchstäblich von Sinnen zu sein. Anstatt die Gunst der Stunde zu nutzen und zu prüfen, ob es nicht in Anbetracht der Lage auch mit etwas weniger weitergehen könne, schrillen allenthalben Alarmsirenen. Auf die materiellen Lebensbedingungen von 2015 oder gar 2010 zurückgeworfen zu werden, erscheint vielen unerträglich und deshalb unzumutbar. Scharfmacher wittern ihre Chancen. Was taugt eine gesellschaftliche Ordnung, in der es nicht materiell ständig aufwärts geht?

Das ist wohl das Beunruhigendste dieser Krise. Was Optimisten erhofft und Pessimisten befürchtet haben, wird nicht eintreten. Die Welt wird nach dieser Heimsuchung keine andere sein. Zurück zu Kaufrausch und Raubbau Noch ehe die derzeitige Coronawelle nachhaltig abgeebbt sein wird, werden sich alle, die dies können, wieder im Kaufrausch befinden, wird jedes attraktive Fleckchen von Urlaubern überflutet sein, werden endlose Autoschlangen den Verkehr lahmlegen. Millionen und Abermillionen werden wie bisher sinnentleerten Tätigkeiten nachgehen und Dinge produzieren, die nur mit einem aberwitzigen Werbeaufwand vermarktet werden können. Aufkeimende Solidarität wird bis zum nächsten Mal hintangestellt werden. Milliarden wird es weltweit am Nötigsten mangeln und Überreiche werden nicht wissen, wohin mit ihrem Reichtum. Statt in sauberes Wasser und saubere Luft wird weiter in Panzer und Kanonen investiert werden. Und Ströme von Brot-, Heimat- und Rechtlosen werden weiter anschwellen.

Das wird sich fortsetzen bis zum nächsten Einschlag, Der nächste Einschlag wird noch schlimmer der nach allem, was jetzt schon für die Zukunft programmiert ist, noch verheerender sein wird als dieser, zumal das Pulver gewaltiger Finanztransaktionen dann verschossen sein wird.

Innehalten

Gedanken im April

Gedanken im April

Noch ist ungewiss, wann die derzeitige Covid 19 Pandemie überwunden sein und wie ihre endgültige Schadensbilanz aussehen wird. Gewiss ist hingegen schon jetzt, dass dies ebenso wenig die letzte Seuche gewesen sein wird, wie es die erste ist und deshalb die Menschen gerade auch in den entwickelten Industrieländern wieder werden lernen müssen, mit ihnen umzugehen.

Denn spätestens seit ihrer Sesshaftwerdung vor vielen tausend Jahren Typhus, Pest und Cholera werden die Menschen begleitet von Typhus, Pest und Cholera, von Masern, Grippe und Diphterie. Und nicht wenige dieser Krankheiten entvölkerten ganze Landstriche, ließen gesellschaftliche Ordnungen kollabieren und brachten kulturelle Entwicklungen zu einem abrupten Ende.

Dergleichen ist nach allem, was wir bislang von Covid 19 wissen, nicht zu erwarten. Von der „dunkelsten Stunde der Menschheit“ zu sprechen, von einer Krise, „der keine andere gleichkommt“, von einem „Krieg um Leben und Tod“ zeugt deshalb nicht nur von mangelhaften Geschichtskenntnissen, sondern offenbart auch ein neurotisches Verhältnis zur Wirklichkeit.

Verwunderlich ist das nicht. Schon früh setzten nämlich die Menschen, namentlich des westlichen Kulturkreises, alles daran, sich möglichst weit am Rand des großen Orchesters von Leben und Tod zu platzieren. Im Grunde wollten sie mit ihm gar nichts mehr zu tun haben, „Krone der Schöpfung“ verstanden sie sich doch als darüber stehend, als „Krone der Schöpfung“.

Da ist es eine ungeheure Kränkung, wenn sich immer wieder irgendwelche Winzlinge, die überhaupt erst bei vieltausendfacher Vergrößerung für das menschliche Auge sichtbar werden, aufmachen und das ganze eitle Menschenwerk wenn schon nicht zerstören so doch zum Stillstand kommen lassen. Das ist unfassbar und unverzeihlich.

Schrille Kriegsrhetorik Die schrille Kriegsrhetorik entspricht diesem Denken und Fühlen. Zwar ist es nur allzu verständlich, wenn Menschen ihr Leben und ihre Gesundheit, ihr Hab und Gut und ihre lieb gewonnenen Gewohnheiten zu schützen bestrebt sind. Doch gegen Mikroben ins Feld zu ziehen, gegen Viren und Bakterien, ist – wenn überhaupt – eine sehr eigene Art von Krieg.

Denn solche Mikroben sind Teil der Welt, in der wir leben, und damit Teil von uns. Ohne sie können wir nicht existieren. Uns bleibt nur, uns so in das Gefüge des Lebens einzubringen, dass wir möglichst großen Nutzen und möglichst geringen Schaden davon haben. Das ist nicht immer einfach. Bisweilen steht uns unsere Kultur dabei im Weg.

Das erfahren wir in diesen Tagen erneut auf eindrucksvolle Weise. Wie viel Mobilität ist dem Menschen zuträglich? Wie viel Nähe? Wie viel Respekt verdienen biologische Schranken und wo sind die Grenzen für Manipulationen? Es mag ja gut sein, dass wir dem, was uns derzeit plagt, durch unseren Lebensstil kräftig Vorschub geleistet haben.

Wo stünden die Coronaviren heute, wenn sich nicht der stets mobile Mensch zu ihrem willigen Transportmittel gemacht hätte? Ist es nicht bittere Ironie, dass ihm im Kampf gegen sie vorerst nichts anderes einfällt, als die Füße still zu halten? Was für ein Krieg. Voranschreiten durch Innehalten Voranschreiten durch Innehalten. Diese Dialektik könnte auch in anderen Lebensbereichen wegweisend sein.

Vielleicht könnte uns die derzeitige Krise lehren, ruhiger und gelassener zu werden. Zwar ist Stillstand dem Menschen gewiss nicht gemäß. Leere Straßen und Plätze, Kinos und Kirchen entsprechen nicht seiner Natur. Aber ist die hektische Betriebsamkeit, die vor der erzwungenen Pause unser Leben bestimmte, unserer Natur gemäßer? Ist es das, was wir wirklich wollen und brauchen? Innehalten als Mittel der Heilung oder zumindest der Schadensminderung. Das könnte eine Lehre dieser Seuche sein.

Daten

Gedanken im März

Gedanken im März

Der Anlass ist alltäglich. Eine Bank lädt ihre Kunden und sonstige Interessierte zu einem Vortrag über die neuesten Entwicklungen der Finanzmärkte ein. Im Anschluss soll es eine kurze Fragerunde und einen kleinen Umtrunk geben. Das ist alles. Das Übliche also.

Doch die Rückseite dieser Einladung hat es in sich. In winzigem Druck, der viele an die Grenzen ihrer Sehkraft führen dürfte, wird den Eingeladenen mitgeteilt, dass sie mit Teilnahme an der Veranstaltung erklären, „das Folgende“ verstanden zu haben und damit einverstanden sind.

Um eine solche Erklärung wahrheitsgemäß abgeben zu können, ist allerdings ein erfolgreiches Jurastudium Voraussetzung. Unkontrollierbare Verwendung persönlicher Daten Nur so viel wird klar: Die Bank, „die gemäß den geltenden gesetzlichen Bestimmungen“ „größten Wert auf die Privatsphäre“ ihrer Kunden legt, kann mit deren Daten – Name, Anschrift, E-Mail-Adresse usw. – so ziemlich alles machen, was sie will. Was Dritte dann mit diesen Daten machen, ist ihr nicht mehr anzulasten. Ganz grundsätzlich stellt sie fest, dass die Verwendung elektronischer Kommunikationsmittel „mit erheblichen Risiken verbunden sein könnte“, soll wohl heißen: Hände weg davon.

Nicht immer wird die Problematik dieser Mittel so offen angesprochen. Aber sie ist real und allgegenwärtig, ob an der Theaterkasse, dem Reisebüro oder jedem beliebigen Kontakt mit einem Computer oder Smartphone. Die Vorteile elektronischer Kommunikation zu genießen bedeutet zugleich, riesige Löcher in den Schutzwall zu reißen, der während Generationen um die Privatsphäre errichtet worden ist.

Nach dem Motto „ich habe nichts zu verbergen“ mag dies vielen gleichgültig sein. Dennoch stellt dies einen tiefgreifenden Wandel von einer Kultur, die das Private durch Regelungen wie das Fernsprech-, Post-, Bank- oder Steuergeheimnis zu wahren suchte, Wandel zu einer Kultur weitgehender individueller Transparenz. hin zu einer Kultur weitgehender individueller Transparenz dar. Der gläserne, der nackte Mensch als gesellschaftliches Ideal.

Zwar wird den Bürgern noch immer vorgegaukelt, um sich eine Schutzzone zu haben. Zumindest ihre Menschenwürde soll unantastbar sein. Doch damit ist es nicht allzu weit her. Ohne dass sie hierzu noch irgendetwas beitragen müssten, können sie an jedem beliebigen Ort, zu jeder beliebigen Zeit bis in ihre tiefsten Schichten durchleuchtet werden.

Das kann in bester Absicht geschehen. So manche Straftat ist so vereitelt oder aufgeklärt worden. Umgekehrt werden Menschen auf die gleiche Weise aber auch empfindliche, mitunter sogar tödliche Verletzungen zugefügt. Die Öffentlichkeit reagiert. Krampfhaft versuchen Gesetzgeber und Rechtsprechung die klaffendsten Breschen, die in den letzten Jahren in den Persönlichkeitsschutz geschlagen worden sind, zu schließen. Ständig werden neue Sicherungssysteme installiert. Immer mehr Geheimzahlen, Codewörter und PINs Die Bürger wissen kaum noch wohin mit all den Geheimzahlen, Codewörtern und PINs. Doch gerade das zeigt, dass die Systeme nicht sicher sind und zwischen deren Gebrauch und Missbrauch nur eine brüchige Trennwand steht. Und allenthalben heißt es: Wir arbeiten daran. Die Frage ist, auf welcher Seite der Wand?

Die Zeit ist überreif für eine sehr grundsätzliche Entscheidung. Sollen die Gemeinwesen abgleiten in Exhibitionismus und Voyeurismus – sie sind auf schnellem Weg dorthin – oder sind wir bereit, die Würde des Menschen, einschließlich seiner Privatsphäre umfassend zu schützen. Letzteres bedeutet nicht zuletzt den Verzicht auf Erhebung und Nutzung großer Datenmengen und ihre freizügige Verbreitung. Vielleicht ist es hierfür zu spät. Gefahr für die Würde des Menschen Dann aber müssen wir uns auf sehr ungemütliche und inhumane Zeiten einstellen. Der technische Fortschritt hätte ein übergroßes Opfer gefunden: die Würde des Menschen.

Begrenzungen

Gedanken im Februar

Gedanken im Februar

Als im November 1918 die bis dahin Deutschland Regierenden fluchtartig die politische Bühne verließen und damit eine Jahrhunderte währende quasi feudale Ordnung beendeten, schien der Weg frei für eine neue Ordnung: die Herrschaft des Volkes, die Demokratie.

Doch der Schein trog. Nach mehr oder minder demokratischen Intermezzi entstanden nicht nur in Deutschland sondern in zahlreichen Ländern Europas autokratische und diktatorische aber keineswegs demokratische Gemeinwesen. Mangel an Demokraten Den jungen Demokratien hatte es am Wichtigsten gemangelt: Demokraten.

Nach dem zweiten Weltkrieg keimte die Hoffnung auf eine nochmalige Chance. Die Umstände waren günstig und eine Zeitlang schien es, als könne die Demokratie diesmal einen Siegeszug antreten. Doch abermals trog der Schein. Zwar nahmen immer mehr Länder für sich in Anspruch, Demokratien zu sein. Doch die meisten von ihnen stolpern und straucheln heute durch die Geschichte. Denn wiederum fehlt es an Demokraten.

Damit bewahrheitet sich eine Befürchtung, die bereits Platon vor annähernd 2.500 Jahren hegte: Demokratie erfordert Menschen, die sich zu begrenzen wissen. Grenzenlosigkeit Für Platon strebten die meisten nach grenzenloser Freiheit. Inzwischen streben sie auch nach grenzenloser Wohlstandsmehrung, Selbstverwirklichung, Anerkennung. Die Schwäche der Demokratie: Sie hat diesem grenzenlosen Streben nichts Effektives entgegenzusetzen.

Alle erwarten alles von ihr. Sie wollen nicht länger verantwortlich sein für die Erziehung ihrer Kinder, saubere Straßen und Grünanlagen, gesunde Luft, Arbeitsplätze. Das alles soll der Staat richten oder genauer: die demokratisch legitimierten Politiker und Politikerinnen. Wozu sind diese schließlich gewählt worden?

Und wehe, wenn diese einmal nein sagen, wenn sie erklären: Wir können nicht mehr. Was ihr, liebe Mitbürger erwartet und verlangt, lässt sich nicht verwirklichen. Versprechen von Unmöglichem Also wird immer weiter Unmögliches versprochen: immerwährendes Wachstum, immer mehr materieller Wohlstand, immer mehr Glück der Menschen. Wer bei einigermaßen klarem Verstand ist, weiß, dass das alles nicht geht. Aber der demokratiegewöhnte Bürger fordert mit der größten Selbstverständlichkeit eine dreiprozentige Lohnerhöhung bei einem Wirtschaftswachstum von einem Prozent, wobei auch dieses eine Prozent längst auf gnadenlosem Raubbau von Natur, Umwelt und Mitmenschen gründet.

Systemische Überforderung Vielleicht ist es eine tiefe Ahnung von der systemischen Überforderung demokratisch verfasster Gemeinwesen, die viele davon abhält, für diese Verantwortung zu übernehmen. Denn es stimmt ja: Unter diesen Umständen zum Beispiel eine Partei zu bilden, die übergeordnete Ziele verfolgt und dabei das Gemeinwohl im Blick hat, ist beinahe unmöglich.

Der umfassend entgrenzte Bürger ist vollauf damit beschäftigt, seine Partikularinteressen zu wahren. Da reicht es allenfalls noch, sich zu Interessengruppen zusammenzuschließen, die allerdings im Laufe der Zeit in immer kleinere Partikel zerfallen. Politik im eigentlichen Wortsinn kann es in solchen Gemeinwesen nicht mehr geben. Die Folge: Früher oder später zerfallen auch sie.

Für die Demokratie gilt mehr als für jede andere Gesellschaftsform: Begrenzung Voraussetzung für Demokratie Ohne bewusste und gewollte Begrenzung aller ihrer Glieder ist sie nicht überlebensfähig. Sie selbst ist nämlich zu solchen Begrenzungen nur sehr bedingt in der Lage. Deshalb muss jeder einzelne für sich die Frage beantworten, ob sein Lebensstil sozial verträglich, soll heißen gemeinschafts- und zukunftsfähig ist. Jeder einzelne muss bestrebt sein, sich in das größere Ganze einzubringen. Jeder einzelne muss in seinem Lebensbereich nach Kompromissen suchen. Demokratie steht und fällt mit Menschen mit demokratischer Gesinnung. Daher ist sie labiler als jede andere gesellschaftliche Ordnung. Sie hat aber auch die Chance, stabiler als jede andere zu sein.