Begrenzungen

Gedanken im Februar

Gedanken im Februar

Als im November 1918 die bis dahin Deutschland Regierenden fluchtartig die politische Bühne verließen und damit eine Jahrhunderte währende quasi feudale Ordnung beendeten, schien der Weg frei für eine neue Ordnung: die Herrschaft des Volkes, die Demokratie.

Doch der Schein trog. Nach mehr oder minder demokratischen Intermezzi entstanden nicht nur in Deutschland sondern in zahlreichen Ländern Europas autokratische und diktatorische aber keineswegs demokratische Gemeinwesen. Mangel an Demokraten Den jungen Demokratien hatte es am Wichtigsten gemangelt: Demokraten.

Nach dem zweiten Weltkrieg keimte die Hoffnung auf eine nochmalige Chance. Die Umstände waren günstig und eine Zeitlang schien es, als könne die Demokratie diesmal einen Siegeszug antreten. Doch abermals trog der Schein. Zwar nahmen immer mehr Länder für sich in Anspruch, Demokratien zu sein. Doch die meisten von ihnen stolpern und straucheln heute durch die Geschichte. Denn wiederum fehlt es an Demokraten.

Damit bewahrheitet sich eine Befürchtung, die bereits Platon vor annähernd 2.500 Jahren hegte: Demokratie erfordert Menschen, die sich zu begrenzen wissen. Grenzenlosigkeit Für Platon strebten die meisten nach grenzenloser Freiheit. Inzwischen streben sie auch nach grenzenloser Wohlstandsmehrung, Selbstverwirklichung, Anerkennung. Die Schwäche der Demokratie: Sie hat diesem grenzenlosen Streben nichts Effektives entgegenzusetzen.

Alle erwarten alles von ihr. Sie wollen nicht länger verantwortlich sein für die Erziehung ihrer Kinder, saubere Straßen und Grünanlagen, gesunde Luft, Arbeitsplätze. Das alles soll der Staat richten oder genauer: die demokratisch legitimierten Politiker und Politikerinnen. Wozu sind diese schließlich gewählt worden?

Und wehe, wenn diese einmal nein sagen, wenn sie erklären: Wir können nicht mehr. Was ihr, liebe Mitbürger erwartet und verlangt, lässt sich nicht verwirklichen. Versprechen von Unmöglichem Also wird immer weiter Unmögliches versprochen: immerwährendes Wachstum, immer mehr materieller Wohlstand, immer mehr Glück der Menschen. Wer bei einigermaßen klarem Verstand ist, weiß, dass das alles nicht geht. Aber der demokratiegewöhnte Bürger fordert mit der größten Selbstverständlichkeit eine dreiprozentige Lohnerhöhung bei einem Wirtschaftswachstum von einem Prozent, wobei auch dieses eine Prozent längst auf gnadenlosem Raubbau von Natur, Umwelt und Mitmenschen gründet.

Systemische Überforderung Vielleicht ist es eine tiefe Ahnung von der systemischen Überforderung demokratisch verfasster Gemeinwesen, die viele davon abhält, für diese Verantwortung zu übernehmen. Denn es stimmt ja: Unter diesen Umständen zum Beispiel eine Partei zu bilden, die übergeordnete Ziele verfolgt und dabei das Gemeinwohl im Blick hat, ist beinahe unmöglich.

Der umfassend entgrenzte Bürger ist vollauf damit beschäftigt, seine Partikularinteressen zu wahren. Da reicht es allenfalls noch, sich zu Interessengruppen zusammenzuschließen, die allerdings im Laufe der Zeit in immer kleinere Partikel zerfallen. Politik im eigentlichen Wortsinn kann es in solchen Gemeinwesen nicht mehr geben. Die Folge: Früher oder später zerfallen auch sie.

Für die Demokratie gilt mehr als für jede andere Gesellschaftsform: Begrenzung Voraussetzung für Demokratie Ohne bewusste und gewollte Begrenzung aller ihrer Glieder ist sie nicht überlebensfähig. Sie selbst ist nämlich zu solchen Begrenzungen nur sehr bedingt in der Lage. Deshalb muss jeder einzelne für sich die Frage beantworten, ob sein Lebensstil sozial verträglich, soll heißen gemeinschafts- und zukunftsfähig ist. Jeder einzelne muss bestrebt sein, sich in das größere Ganze einzubringen. Jeder einzelne muss in seinem Lebensbereich nach Kompromissen suchen. Demokratie steht und fällt mit Menschen mit demokratischer Gesinnung. Daher ist sie labiler als jede andere gesellschaftliche Ordnung. Sie hat aber auch die Chance, stabiler als jede andere zu sein.

Interkulturelles Ökologisches Manifest

Dass wir, unsere Kinder und die folgenden Generationen ökologisch vor ungeheuren Herausforderungen stehen, ist offensichtlich. Doch es herrscht Ratlosigkeit, wenn nach nachhaltigen Auswegen aus der Krise gefragt wird. Michael von Brück bringt dafür Denkansätze aus den europäischen und asiatischen Traditionen in ein Gespräch, aus dem uns ein Umdenken, ein Umfühlen, ein neues Handeln zuwachsen kann. Denn Europa, Indien und China verfügen über einen riesigen spirituellen Reichtum, von dem her eine Transformation unserer Lebensformen und eine Erneuerung unseres Selbstverständnisses als Menschen auf dieser Erde möglich ist.

Michael von Brück, Jahrgang 1949, ist evangelischer Pfarrer, lebte mehrere Jahre als Dozent in Indien und arbeitet mit dem Dalai Lama zusammen. Seit 1985 ist er Zen- und Yoga-Lehrer. Von 1991 bis 2014 war er Professor für Religionswissenschaft an der LMU in München; gegenwärtig hat er eine Honorarprofessur an der Katholischen Privat-Universität Linz für Religionsästhetik inne, ist Direktor der Palliativ-Spirituellen Akademie in Weyarn und Gründungsmitglied der University for Life and Peace in Yangon, Myanmar.

Kulturelle Erneuerung - Der Beitrag der abendländischen Philosophie

Kultur ist die gesellschaftliche Form, die das menschliche Leben nicht nur zum Überleben, sondern zur Entfaltung seiner besten Kräfte benötigt. Ob die Kultur beides auch in Zukunft wird leisten können, erscheint fraglich. Volker Gerhardts programmatischer Entwurf zeigt, dass es die Aufgabe der Philosophie ist, Klarheit in die Verhältnisse zwischen den Leitbegriffen Natur, Kultur, Technik und Vernunft zu bringen. Seine These ist, dass es vornehmlich kulturelle Veränderungen sein müssen, durch die die drohende Katastrophe abgewendet werden kann. Und: Um wirksam zu sein, muss eine solche kulturelle Erneuerung eine weltweite Perspektive haben – unter Wahrung der nationalen, regionalen und lokalen Traditionen.

Volker Gerhardt, Dr. phil., Drs. h.c., Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, Mitglied und Vorsitzender zahlreicher Kommissionen. Letzte Veröffentlichungen: »Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang« (2016), »Humanität. Über den Geist der Menschheit« (2019).

Kleines 1x1

Gedanken im Januar

Gedanken im Januar

Die Rechnung ist einfach. Wenn – wie in Deutschland – über viele Jahrzehnte hinweg etwa jede fünfte Frau – gewollt oder ungewollt – kein Kind bekommt, dann bleibt über kurz oder lang ein Drittel der Bevölkerung ohne Enkel und die Hälfte ohne Urenkel. Die zwangsläufige Folge: Ohne ständig wachsende Zuwanderung nimmt die Zahl der Menschen mit immer größerer Geschwindigkeit ab und ihr Altenanteil steigt rapide an. Schrumpfen und vergreisen Sie schrumpft und vergreist.

Eine Gesellschaft kann das hinnehmen und sich auf ihr allmähliches Erlöschen einstellen. Oder sie kann versuchen, dem gegenzusteuern. Eine Möglichkeit: wieder mehr eigene Kinder. Das aber ist leichter gesagt als verwirklicht. Schon im antiken Griechenland und Rom halfen zum Teil drakonische Maßnahmen nur wenig, den periodisch extremen Kindermangel zu überwinden. Und in der Neuzeit vermochten hierzulande weder Kaiser noch Führer noch Demokraten, die Geburtenrate auf einem bestandserhaltenden Niveau zu halten.

Der letzte Jahrgang, der sich in Deutschland in der Zahl seiner Kinder ersetzte, war der Geburtsjahrgang 1881. Nachdem dieser in den 1920er Jahren seine Kinder gehabt hatte und ein zunehmender Anstieg der Lebenserwartung keinen Ausgleich mehr schaffen konnte, begann die einheimische Bevölkerung trotz zeitweise engagierter Familienpolitik zahlenmäßig abzunehmen. Kinder können mit den Verlockungen unserer Kultur nur bedingt mithalten Mit den Bedingungen und Verlockungen unserer Kultur konnten und können Kinder nur bedingt mithalten.

Das hat Bestrebungen gefördert, das Land oder besser noch ganz Europa zu einer Art Festung auszubauen, nicht zuletzt um so die ausdünnende und zunehmend altersschwache einheimische Bevölkerung noch für eine Weile zu schützen. Die Schwächen dieser Strategie liegen auf der Hand. Die Menschen hinter den Mauern schrumpfen und altern noch schneller als wenn die Tore offen stünden.

Offene Tore sind eine Herausforderung Freilich sind offene Tore für die Eingesessenen eine Herausforderung, die zu meistern gelernt sein will. Denn größere Zuwandererkohorten, die erkennen, dass sie für die Einheimischen unverzichtbar sind, unterwerfen sich nicht bedingungslos den Normen und Bräuchen, der Sprache und Religion und noch nicht einmal der „Leitkultur“ des aufnehmenden Landes. Die Geschichte ist hier eindeutig. Stets haben nicht nur die „Alten“ den „Neuen“ sondern umgekehrt auch die „Neuen“ den „Alten“ ihren Stempel aufgedrückt und mitunter auch deren Kultur durch ihre eigene ersetzt.

Das muss nicht so kommen, aber darauf gilt es sich einzustellen. Was dürfen Völker erwarten, die noch vor einigen Generationen ein Drittel der Menschheit stellten und die Welt beherrschten, jetzt aber auf einen Bruchteil abgenommen haben und andere mit zumindest ebenso lauter Stimmen sprechen? Ist das der Weltuntergang? Mit Sicherheit nicht. Neues Kapitel der Menschheitsgeschichte Aber es ist ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte, in dem die Karten neu gemischt werden und neue Regeln gelten. Je eher die Völker der früh industrialisierten Länder das begreifen desto besser werden sie künftig mithalten können.

Sie müssen begreifen, dass sie existenziell gefährdet sind, wenn sie ihre Alten, Kranken und Pflegebedürftigen nicht mehr aus eigener Kraft angemessen versorgen können, hunderttausende von Lehrstellen sowie qualifizierter und nicht qualifizierter Arbeitsplätzen mangels geeigneten Personals unbesetzt bleiben und Zukunftsvisionen schwinden, weil immer mehr Menschen keinen Sinn mehr in ihren Anstrengungen sehen. Wozu in einen Handwerksbetrieb oder in eine Anwaltskanzlei investieren, wenn es keinen Nachfolger mehr gibt?

Zusammen mit anderen Ländern befindet sich Deutschland heute an einem Punkt, wo es sich eingestehen muss: Die Bevölkerung kann nicht mehr fest auf den eigenen Beinen stehen. Sie muss von Menschen gestützt werden, die willens und in der Lage sind, die Lasten einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft mitzutragen. Kluge Einwanderungspolitik und aufrichtige Willkommenskultur unverzichtbar Solche Menschen sind rarer als manche glauben. Um sie muss geworben und gegebenenfalls auch gerungen werden. Eine kluge und vorausschauende Einwanderungspolitik verbunden mit einer aufrichtigen Willkommenskultur ist dabei unverzichtbar.

Groß geworden, klein geblieben

Gedanken im Dezember

Gedanken im Dezember

Dass „der kleine Mann“ groß werden, sprich, dass er sein wirtschaftliches Fundament verbreitern, seinen Bildungsgrad erhöhen und seine gesellschaftliche Verankerung festigen würde, war in Ländern wie Deutschland seit langem absehbar. Doch die Erwartung oder zumindest Hoffnung, dass mit diesem Großwerden auch ein Erwachsenwerden einher gehen werde, soll heißen, dass die Bereitschaft zunehmen werde, für sich, andere und das Gemeinwesen vorausschauend und verantwortungsvoll zu handeln, wurde weitgehend enttäuscht. Mitunter scheint sich sogar eine gegenläufige Entwicklung Bahn gebrochen zu haben.

Ruf nach starker Führung So nimmt der Ruf nach starker Führung sei es in der Politik, der Wirtschaft oder sonstigen Lebensbereichen eher zu als ab. Das ist in einer Gesellschaft, die vor noch gar nicht so langer Zeit mehr Demokratie wagen wollte, paradox. Mehr Demokratie hätte nämlich auch geheißen, für mehr einzustehen und mit den breiter werdenden Schultern größere Lasten zu tragen. Gewiss, das Steueraufkommen und auch die Sozialabgaben können sich sehen lassen. Aber die Übernahme größerer gesellschaftlicher Verantwortung ist das noch nicht. Da sitzen die groß gewordenen kleinen Männer und Frauen breiter denn je in der Proszeniumsloge und betrachten das politische Spektakel.

Der nahe liegende Einwand: Finden sich nicht immer häufiger viele Bürger zusammen, um ihre Meinung kund zu tun und Forderungen zu erheben? Das stimmt. Aber diese Aktivitäten wären eindrucksvoller, wenn der Anteil realistischer Ziele größer wäre. Doch meist geht es um ein schlichtes Mehr, mehr Kindergartenplätze, Lehrer oder Polizisten und vor allem mehr Geld für alles und jeden. Der Adressat dieser wohlfeilen Forderungen bleibt dabei zumeist im Dunkeln. Aus gutem Grund. Denn es sind in aller Regel genau dieselben, die diese Forderungen erheben, aber gar nicht daran denken, für ihre Erfüllung aufzukommen.

Erwachsene verhalten sich anders. umfassende Für- und Vorsorge des Staates Sie suchen nicht die umfassende Für- und Vorsorge des Staates und seinen Schutz in allen Lebenslagen. Vielmehr erfüllt es sie mit Befriedigung, ihre Geschicke möglichst in die eigenen Hände zu nehmen und ihr Schicksal zu gestalten. Davon ist zwar viel die Rede, nur wirklich umgesetzt wird wenig.

Das zeigt sich schon im Kleinen. Natürlich könnten die meisten heute ihre Beiträge an die Sozialversicherungsträger eigenständig abführen oder sich um ihre berufliche Weiterbildung kümmern. Das aber ist ihnen zu mühsam. Das soll wie vor vielen Jahrzehnten der Arbeitgeber oder besser noch der Staat regeln. Und wenn ein windiger Reiseveranstalter sie auf einer fernen Insel stranden lässt, kommt ihnen ebenfalls rasch Vater Staat in den Sinn, der seine Kinder eiligst heimholen möge.

Verantwortungsvolles Handeln begrenzt Verantwortungsvolles Handeln. Dieses wohl hervorstechendste Merkmal Erwachsener ist für viele auf enge Bereiche begrenzt und selbst da lückenhaft. Verantwortung für den Partner, die Partnerin, die Kinder, die Eltern? Nur wenn dies nicht den eigenen Lebenszuschnitt spürbar einschränkt. Noch nie hat das Gemeinwesen solche Summen für die Versorgung von Kindern oder hilfsbedürftigen Eltern aufgebracht, aufbringen müssen. Doch so zu handeln, hält eine zunehmende Zahl von Menschen für angemessen und vertretbar.

Und für angemessen und vertretbar hält sie auch, aus schierem Eigennutz die Lebensgrundlagen aller zu zerstören. Wohl gilt auch hier: Über Verantwortung zu reden steht hoch im Kurs. Verantwortungsvolles Handeln lässt hingegen zu wünschen übrig. Die Folgen des eigenen Tuns kritisch zu überdenken und sich entsprechend zu verhalten ist die Sache der breiten Mehrheit nicht. Wie zu Zeiten, als sie arm, wenig gebildet und oft wurzellos war, beschränkt sie sich auf den engsten, überschaubarsten Lebensbereich.

Beim Großwerden des kleinen Mannes scheint etwas gründlich schief gelaufen zu sein. Wie manche Eltern nicht erkennen, dass ihre Kinder erwachsen geworden sind und das Hotel Mama nicht nur verlassen können, sondern zum Vorteil aller auch verlassen müssen, Vormund Staat, Mündel Bürger so hat „Vater Staat“ viel zu lange an einer Vormundschaft festgehalten, dem das Mündel längst entwachsen ist. Das ist tragisch. Die Menschen könnten nämlich andere, erwachsenere Leben leben. Das aber haben sie nur unzulänglich gelernt.

Wahn

Gedanken im November

Gedanken im November

„Der schrecklichste der Schrecken“ ist, Friedrich Schiller zufolge, „der Mensch in seinem Wahn“. Wahn: „eine inhaltliche Denkstörung, die als Symptom von Psychosen auftritt und durch subjektive Gewissheit der Betroffenen, Unkorrigierbarkeit durch widerlegende Argumente und meist durch den Widerspruch zum objektiven Sachverhalt gekennzeichnet ist.“ (Brockhaus 1994)

Von Wahn Besessene hat es offenbar zu allen Zeiten gegeben. Schon antike Quellen berichten von Menschen besessen von Größen-, Hexen- oder Teufelswahn. Aufklärung und moderne Wissenschaft haben hieran wenig geändert. Geändert hat sich allenfalls der Gegenstand des Wahns. Vom Größen- zum Allmachtswahn An die Stelle von Größen-, Hexen- oder Teufelswahn traten Jugend- und Schönheits-, Fortschritts- und Wohlstands- und insbesondere Allmachts- und Glückswahn. Alles ist möglich, alles ist machbar. Die Dinge mögen sein, wie sie wollen – die Menschen finden immer eine Lösung und zu guter Letzt werden alle glücklich sein. Für Dein Glück benutze diese Hautcreme oder wähle jene Partei. Enttäuschungen werden verdrängt.

Gegen „widerlegende Argumente“ sind solche Wahnvorstellungen immun. Gleichgültig wie offenkundig es ist, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen – der Wahn hält an: Mobilitäts-, Geschwindigkeits-, Wachstumswahn. Die Welt ächzt und stöhnt darunter. Aber die vom Wahn Besessenen haben kein Einsehen, mag ihr Handeln noch so sehr im „Widerspruch zum objektiven Sachverhalt“ stehen.

Da beklagen Scharen von Menschen, denen es wirtschaftlich besser geht als allen Generationen vor ihnen, die beste Bildungschancen haben, die sich nicht zuletzt dank umfangreicher Fürsorge guter Gesundheit erfreuen und die das Privileg genießen, in freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen zu leben, sie seien missverstanden, zurückgesetzt und von allen Seiten bedroht. Subjektive Gewissheiten Überall wähnen sie finstere Mächte, die ihnen nicht nur Hab und Gut sondern auch noch ihre Sprache, Werte und Kultur streitig machen. Das ist die Wirklichkeit, derer sie „subjektiv gewiss“ sind.

Eine Gesellschaft, in der solche Gewissheiten wuchern, verliert ihre Fähigkeit, vernünftig zu denken und zu handeln. In solchen Gesellschaften scheint es logisch, einer alles in allem gut funktionierenden Gemeinschaft von Staaten den Rücken zu kehren, um an eine imperiale Geschichte anzuknüpfen, die vor mehr als hundert Jahren krachend zu Ende gegangen ist, scheint es logisch, durch konsequente Abschottung die Kultur eines Landes und Kontinents zu erhalten, von deren einheimischer Bevölkerung seit langem sehr viel mehr Menschen sterben als geboren werden, scheint es logisch, einen christlich-humanistischen Wertekanon hochzuhalten, indem man Rettungssuchende auf hoher See ertrinken lässt.

Vernunftferne, wahnhafte Gesellschaften In solchen vernunftfernen, wahnhaften Gesellschaften prallen Ansprüche, Sichtweisen und Haltungen unversöhnlich aufeinander, bis diese tief gespalten und unregierbar geworden sind. Sie sind Opfer „inhaltlicher Denkstörungen, die als Symptom von Psychosen auftreten“. Vieles wäre sonst nicht erklärbar.

Die Bevölkerungen, namentlich wirtschaftlich hoch entwickelter Länder, haben sich in Wahnvorstellungen darüber verstiegen, was geht und was nicht geht. So fordern sie lautstark die ständige Erhöhung nicht nur staatlicher Leistungen sondern auch ihrer individuellen Einkommen, obwohl ihre Volkswirtschaften längst außerhalb irdischer Tragfähigkeitsgrenzen agieren. Das aber ficht die meisten nicht an. Hauptsache mehr, auch wenn dieses Mehr nur ein Trugbild ist. Mit wirtschaftlich Bedürftigen zu teilen, geht hingegen gar nicht.

Zu den gesellschaftlich unverzichtbaren Aufgaben gehört, Wahn zu benennen und ihm entschieden entgegenzutreten. Es ist nicht alles machbar weder ewige Jugend noch Schönheit, weder immerwährender Fortschritt noch immerwährendes Wachstum und am wenigsten Allmacht und Glück. Oder vielleicht doch Glück. Glück in der realen Welt suchen Vorausgesetzt dieses Glück wird nicht in der Welt des Wahns sondern in der realen Welt gesucht.

Politik und Liebe

Gedanken im Oktober

Gedanken im Oktober

Der heute weithin vergessene Georg Forster, das große Vorbild Alexander von Humboldts, vor allem aber einer der ersten und wohl auch bedeutendsten deutschen Völkerkundler scheint keine sehr hohe Meinung vom Gegenstand seiner Forschung gehabt zu haben. „Das Volk“, so schreibt er in den Revolutionswirren von 1793, „ist, wie es immer war. Ohne Festigkeit, ohne Wärme, ohne Liebe, ohne Wahrheit.“ Das aber heißt, dass er „dem Volk“ einen Großteil der Qualitäten abspricht, die den Menschen erst zum Menschen machen.

Träfe Forsters Einschätzung zu, hätte er mit seiner knappen Bemerkung ein gewaltiges kulturelles Defizit offengelegt. Denn was wäre der Mensch ohne Festigkeit, Wärme, Liebe und Wahrheit? Ein vernunftbegabtes Tier. Das ist nicht wenig. Gewaltiges kulturelles Defizit Aber es reicht nicht für die Schaffung und Aufrechterhaltung menschlicher Kultur, bei der es ohne Wärme und Liebe offenbar nicht geht. Was ist aus der Sicht des scheidenden Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker eine der größten Schwächen der Europäer: „Man liebt sich nicht mehr genug.“ Das mag in den Ohren vieler befremdlich klingen. Politik und Liebe. Hat Politik nicht zuvörderst beinharten Interessen zu dienen? Sind Wärme, Liebe und Wahrheit nicht höchst individuelle und damit subjektive Attribute?

Ganz ohne Zweifel hat sie der Zeitgeist zu solchen gemacht. Er liebe nicht Deutschland sondern seine Frau, bekundete einst Bundespräsident Gustav Heinemann. Aber ist diese Sichtweise auch angemessen? Taucht man ein wenig in die Geistesgeschichte ein, dann wurde stets darum gerungen, den Menschen nicht nur individuell sondern als Glied einer Gemeinschaft aus seiner „natürlichen“ Existenz, die nach Ansicht des britischen Philosophen Thomas Hobbes, „elend, brutal und kurz“ ist, herauszuführen.

Nicht nur die Weltreligionen auch die großen philosophischen Systeme legen hiervon Zeugnis ab. Bei ihnen ist nirgendwo die Rede von Wirtschaftswachstum, materieller Wohlstandsmehrung, politischer Macht oder militärischer Stärke. Umso größeren Raum nehmen Verständnis, Wärme und - gerade im Christentum - explizit Liebe ein.

Liebe in der Politik. Wenn ein solches Postulat weltfremd erscheint, Unausgewogene Entwicklung menschlicher Kultur zeigt das nur, wie unausgewogen sich menschliche Kultur entwickelt hat. Während all das, was diese Kultur im Bereich der Naturwissenschaften abdeckt, zu einem mächtigen Baum herangewachsen ist, liegen weite Bereiche der Künste, der Ethik und Religionen in dessen Schatten. Zwar sind sie nicht bedeutungslos. Pflichtschuldig wird ihnen in Sonntagsvormittagsprogrammen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder als „Kunst am Bau“ Tribut gezollt. Aber dass sie gesellschaftlich prägend seien, lässt sich wohl kaum behaupten.

Die Gesellschaft spiegelt das wider. Der materielle Aufwand, der betrieben wird, betrieben werden muss, um den Verlust von Wärme und Liebe in der Gesellschaft notdürftig zu kaschieren, ist gewaltig. Was tun mit den vielen Kindern und Jugendlichen, die faktisch Waisen oder Halbwaisen sind, mit den Alten und Behinderten, die sich einzig auf den Staat stützen können, mit den Heimatlosen und Flüchtlingen? Der Glaube, eine funktionierende Wirtschaft könne das alles auffangen, hat sich längst als Irrglaube erwiesen. Ohne Wärme, Liebe und Wahrhaftigkeit geht es nicht Ohne zivilgesellschaftliche Festigkeit, ohne sehr viel mehr Wärme, Liebe und Wahrhaftigkeit geht es auf Dauer nicht. Die aber erfordern Denk-, Gefühls- und Handlungswelten, die seit langem vernachlässigt werden.

Doch vielleicht gibt es Hoffnung. Als vor einiger Zeit rund tausend Vertreter aus unterschiedlichen Ländern, Kulturen und Religionen zum großen Treffen der „Religionen für den Frieden“ in Lindau zusammenkamen und sich an langen, auf der Straße von Lindauer Bürgerinnen und Bürgern gedeckten Tischen niederließen, da habe sich, so berichten Teilnehmer, etwas Magisches ereignet, möglicherweise etwas, was mit überindividueller Wärme und Liebe zu tun hat. Man verstand einander und war vereint in einem gemeinsamen Wollen und Ziel.

Popanz

Gedanken im September

Gedanken im September

Kaum kühlt die Konjunktur ein wenig ab, schon heulen die Sirenen. Wird das in eine Rezession einmünden? Was werden die Reaktionen der Arbeits- und Aktienmärkte sein? Werden wir international noch mithalten können? Der Fragen ist kein Ende.

Was Politiker, Experten und eine schlecht informierte Öffentlichkeit in Wallung versetzt, Anhaltende Fixierung auf Bruttosozialprodukt ist vor allem diese Zahl: das Wachstum der erwirtschafteten Güter- und Dienstemenge, das Bruttosozialprodukt. Doch diese Zahl ist in wirtschaftlich entwickelten Ländern wie Deutschland nicht annähernd so bedeutsam, wie die verbreitete Aufregung vermuten ließe.

Mehr noch: Es ist noch nicht einmal gewiss, ob ihr Anstieg oder Rückgang eine Verbesserung oder Verschlechterung der materiellen Lebensverhältnisse zum Ausdruck bringt. Und über die Lebenszufriedenheit – vom Lebensglück ganz zu schweigen – sagt sie rein gar nichts aus. Sie ist nicht nur zwiegesichtig. Sie ist voller Widersprüche.

Bruttosozialprodukt mangelhafte Kennziffer Ihr wohl größter Mangel: Sie lässt nur höchst unvollkommen erkennen, welchen Aufwand das verbuchte Wachstum erfordert. Welche unwiederbringlichen Bodenschätze werden verbraucht, wieviel Natur? Welche Tier- und Pflanzenarten werden vernichtet, welche gesellschaftlichen Bindungen zerstört? Und umgekehrt: Welche segensreichen Wirkungen gehen von Phasen konjunktureller Abkühlung aus – Luft und Wasser haben eine Chance, sich zu erholen, Menschen innezuhalten.

Ist ein wachsendes Bruttosozialprodukt gut, ein stagnierendes oder gar schrumpfendes schlecht? Dieser Frage ging vor etlichen Jahren eine Enquete- Kommission des Deutschen Bundestages nach und ihre Antwort war eindeutig: Allein anhand von Wachstumszahlen lassen sich keine auch nur annähernd belastbaren Aussagen über den Zustand eines Landes und seine Entwicklung machen. Dafür bedarf es weiterer Indikatoren.

Gefruchtet haben diese Einsichten nicht. Wie die gerade wieder aufflammende Debatte zeigt, stürzen sich die Macher öffentlicher Meinung wie eh und je auf das vertraute und vor allem so bequem zu handhabende Bruttosozialprodukt. Doch das ist ein rechter Popanz.

Wie aber ist es um eine Gesellschaft bestellt, Tanz um einen Popanz die ständig um diesen Popanz tanzt und sich von ihm in Schrecken versetzen oder in trügerischer Sicherheit wiegen lässt? Will sie überhaupt ihren wirklichen Zustand ergründen oder ist es ihr ganz recht, sich mit Themen zu beschäftigen, von denen sie weiß, dass sie weithin irrelevant sind? Wagt sie der Frage nachzugehen, was Wachstum, so wie es heute definiert und gemessen wird, für eine Welt bedeutet, die schon die derzeitige Güter- und Dienstemenge nicht zu tragen vermag?

Was bedeutet wirtschaftliches Wachstum für ein Land, das – wie Deutschland – schon jetzt 3,5 Globen benötigt, um zu wirtschaften wie es wirtschaftet? Ist nicht bereits der Punkt überschritten, wo Wachstum nicht mehr wohlhabender und zufriedener sondern ärmer und verdrießlicher macht? Was aber sollen dann die Sorgen über sinkende oder ausbleibende Wachstumsraten? Vielleicht ist das ja der gebotene Entwicklungstrend, wenn wir noch eine menschenwürdige Zukunft haben wollen?

Was wir brauchen, sind Wachstumsstrategien, Wachstumsstrategien in Einklang mit Umwelt und Mensch die ohne jedes Wenn und Aber in Einklang mit Umwelt und Mensch stehen. Von solchen Strategien ist jedoch nur wenig zu sehen. Kurzfristiges und Vordergründiges haben stets Vorrang. Um das zu ändern, bedarf es eines kulturellen Wandels, der weit über das hinausgeht, was Globalisierung und Digitalisierung heute anbieten. Worum es geht, ist ein Wandel, bei dem Gesellschaften auch dann gedeihen, wenn der materielle Wohlstand – zumindest in den bereits wohlhabenden Ländern – nicht weiter steigt oder sogar sinkt. Ein solcher Wandel erfordert allerdings andere Aktivitäten als jene, die heute das Bruttosozialprodukt nach oben treiben.

Demokratie

Gedanken im August

Gedanken im August

Wieder einmal ist die Demokratie Gegenstand lebhafter Kontroversen. Ist sie in der Lage, notwendige Entscheidungen herbeizuführen? Kann sie gegenwärtige Menschheitsprobleme wie Klimawandel, Migrationsströme oder Verletzungen von Menschenrechten lösen? Vermag sie binnengesellschaftliche und globale Gerechtigkeit herzustellen? Und was die Mehrheit am meisten beschäftigt: Kann sie materiellen Wohlstand schaffen und dauerhaft sichern?

Die ehrliche Antwort ist: Die Demokratie kann nichts von alledem. Denn wie alle menschlichen Konstrukte ist sie immer nur so gut, Ein menschliches Konstrukt aber eben auch so schlecht wie die Menschen, die sie mit Leben erfüllen. Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Demokratie ist Herrschaft des Volkes. Wer sich gegen diese Herrschaft wendet, wendet sich unvermeidlich auch gegen sich selbst.

Nun heißt das nicht, dass es Individuen, gesellschaftliche Gruppen oder institutionelle Arrangements gibt, die diese Herrschaft befördern, belasten oder gar unterminieren. Es gibt so etwas wie eine demokratische Gesinnung, die demokratisches Handeln beflügelt. Und es gibt das Gegenteil: Denk- und Handlungsweisen, die die Demokratie zersetzen.

Feinde der Demokratie Letzteres trifft nicht nur auf die erklärten Feinde der Demokratie zu. Diese sind sogar vergleichsweise leicht abzuwehren, wecken sie doch gewollt oder ungewollt Widerstandskräfte. Ungleich problematischer sind jene, die sich zwar selbst für gute Demokraten halten, zugleich aber – gelegentlich in aller Unschuld – Lebensstile praktizieren, die mit Demokratie schwerlich vereinbar sind.

Die Demokratie gründet auf einer Gemeinschaft von Menschen mit gleichen Rechten und Pflichten. Wo es diese Rechte- und Pflichtengleichheit nicht gibt, gibt es auch keine Demokratie. Anders gewendet: Demokratie und Privilegien schließen einander aus. Privilegien sind das Attribut feudaler Ordnungen. Kein Platz für Privilegien In Demokratien ist für sie kein Raum.

Und doch gieren auch in Demokratien nicht wenige nach eben solchen Privilegien. Das beginnt scheinbar harmlos mit einem Geldschein, der in einem gut besuchten Restaurant einen schönen Tisch sichern soll, setzt sich fort über den Bekannten, der im Krankenhaus doch noch eines der begehrten Einzelzimmer ergattern kann und steigert sich zu schamloser Vorteilsnahme bis hin zu Korruption.

Auf wenig reagiert ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen so empfindlich wie auf diese Art von Verhalten. Wer es gut mit der Demokratie meint, wird deshalb peinlich darauf achten, dass er nicht selbst zum Ärgernis wird. Unterschiede bedürfen der Begründung Unterschiede, die auch nur den Verdacht einer Privilegierung wecken könnten, bedürfen der sorgsamen Begründung.

Das ist nicht immer einfach. Lässt sich beispielsweise ein aufwendiger Lebensstil, der mit einer reichen Erbschaft einhergehen könnte, wirklich überzeugend begründen? Oder die Masse herausgehobener Positionen in Wirtschaft und Politik? Wer selbstkritisch ist, wird bekennen, dass es hier mit Begründungen mitunter nicht weit her ist. Durch demokratisches Gewand blitzt nicht selten purster Feudalismus.

Doch ob begründbar oder nicht: Begünstigte müssen teilen Die von irdischem Glück Begünstigten tun in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen gut daran, wo immer es geht zu teilen. Wo eine Kultur des Teilens herrscht, wird sich Unmut über die Demokratie in engen Grenzen halten. Denn dieser Unmut speist sich vor allem aus dem Gefühl ungerechtfertigter Benachteiligung. Es liegt bei den Begünstigten, diesem Gefühl die Grundlage zu entziehen.

Gift

Gedanken im Juli

Gedanken im Juli

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts formulierte der schottische Gelehrte Adam Smith ökonomische Maximen, die seither das Denken und Handeln vieler Gesellschaften bestimmen. Die wohl wichtigste: „Wer sein eigenes Interesse verfolgt, befördert das der Gesamtgesellschaft häufig wirkungsvoller, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu fördern“.

Allerdings sollte dies nach Smith nur bei gegenseitigem Wohlwollen beziehungsweise Liebe und Zuneigung zwischen den ihrem Eigeninteresse folgenden Individuen gelten. Für Smith war klar, Tugendhaftes Verhalten unverzichtbar dass Eigennutz nur bei „tugendhaftem Verhalten“ den Gesamtnutzen mehrt. Doch diese entscheidende Bedingung wurde von seinen Nachfolgern in den Wind geschlagen. Sie verkürzten seine Lehre auf: Mehre Deinen eigenen Nutzen und alles ist gut.

Die Folgen dieser Verstümmelung sind verheerend, zumal die Maxime ungezügelten Eigennutzes vom Wirtschaftsbereich schnell auf andere Lebensbereiche übersprang. Die heute alles dominierende Frage lautet: Was nützt mir? Nicht nur in der Wirtschaft sondern auch in zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Schule oder auch am Arbeitsplatz, im Schwimmbad oder an der Supermarktkasse – überall heißt es: Welchen Vorteil habe ich davon?

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieses Denken eine Beziehung, Maximierung von Eigennutz vergiftet Gesellschaft eine Gesellschaft oder eine Staatengemeinschaft vergiftet. Denn niemand kann mehr davon ausgehen, dass der andere nicht nur im eigenen sondern auch im gemeinsamen Interesse handelt. Will der Konkurrent wohlstandsmehrenden Wettbewerb oder meinen Konkurs? Ist dies ein fröhlicher Wettstreit von Sängern und Chören oder ein Gemetzel unter Diven und Egomanen?

Warum fällt es so schwer, sich auf das Führungspersonal der Europäischen Gemeinschaft zu einigen? Weil alle Beteiligten – nicht ohne Grund – davon ausgehen, dass niemand unparteiisch und uneigennützig das gemeine Wohl der Europäer verfolgt. Bloß kein Deutscher, kein Franzose, kein Osteuropäer, kein Christ-, Sozial- oder Liberaldemokrat. Und wenn es gar nicht anders geht, dann Unterstützung nur bei entsprechenden Gegenleistungen. Dass irgendjemand sein Mann-, Frau-, Franzose- oder Bulgaresein hinter sich lassen und bedingungslos zu Europa stehen könnte, gilt als ausgeschlossen.

Wahrscheinlich ist diese Sichtweise sogar realistisch. Und sie hat sich jahrtausendelang bewährt. Traue nur Dir selbst und allenfalls noch Deiner Sippe. Tradierte Sichtweisen sind Bedrohung Doch diese Sichtweise ist unter den Lebensbedingungen der Jetztzeit zur Bedrohung geworden. Nur sich selbst zu retten, ist nämlich nicht länger möglich. Entweder das Boot, auf dem wir alle sitzen, erreicht die Küste oder wir gehen gemeinsam unter: Europäer genauso wie Amerikaner, Chinesen genauso wie Inder oder Afrikaner.

Lange, womöglich zu lange haben alle – Individuen, Völker und Staatengemeinschaften - zuvörderst ihren eigenen Vorteil zu maximieren versucht. Das Ergebnis ist eine vergiftete, kranke Welt. Mit Wohlwollen, Liebe und Zuneigung wäre die Menschheit wahrscheinlich weitergekommen. Aber tugendhaftes Verhalten, wie von Adam Smith gefordert, ist unsere Sache nicht. Hier haben wir noch einen schweren Gang vor uns.